Im Kopf

Mit dem inneren Auge sehen

Zurab Paremuzyan in dem Zimmer seiner Wohnung in Eriwan, in dem er die meiste Zeit des Tages verbringt

Über Erinnerung und Raumwahrnehmung

Wie nehmen Menschen, die nicht sehen können, ihre unmittelbare Umgebung wahr? Wie «sehen» sie Räume, die ihnen zutiefst vertraut sind? Der armenische Fotograf Davit Nersisyan bat blinde Menschen in seiner Heimat, die Zimmer, in denen sie die meiste Zeit ihres Tages verbringen, zu zeichnen und hielt die Menschen und Räume zugleich in Fotografien fest.

Text & Fotos — Davit Nersisyan  21.06.2023

Übersetzung — Patrick Ploschnitzki

Im Rahmen meines Langzeitprojekts über das Leben von Menschen mit Sehbehinderungen habe ich mich 2018 mit den Konzepten von Raum und Erinnerung beschäftigt. Während meiner Besuche in den Wohnungen und Häusern blinder Menschen bat ich sie, mir eine Zeichnung der sie umgebenden Räumlichkeiten anzufertigen. Diesen Zeichnungen stellte ich eine Fotografie der Person gegenüber, wie sie in besagtem Raum sitzt. Die Fotografie benannte ich nach dem Zimmer, das sie ausgesucht hatten und in dem sie die meiste Zeit des Tages verbrachten. Es war das Zimmer, das ihnen am vertrautesten war, mit all seinen kleinsten Details, insbesondere jener, die nur mühevoll auf schlichtem Papier wiederzugeben sind und dann immer fehlten, wie etwa ein antiker Kleiderschrank oder gerahmte Ölgemälde.

Die Serie wurde noch im selben Jahr als Diptychon öffentlich ausgestellt. Die meisten Kommentare des Publikums drehten sich um die Überschneidung von objektiver und subjektiver Realität.

Viele glauben, dass das, was die Fotografie darstellt, die Realität ist. Vielleicht, weil sie an das erinnert, was man sieht – im Gegensatz zur Malerei, der die Natürlichkeit fehlt, um perfekt realistisch zu sein.

Im Internet finden sich zahlreiche Experimente, die darauf hindeuten, dass auch sehende Menschen die Welt je nach ihrer individuellen Persönlichkeit und Lebensumgebung unterschiedlich wahrnehmen (der Beruf zum Beispiel scheint einer der nachvollziehbarsten Gründe dafür zu sein). Deshalb war der Aspekt der objektiven Realität für mich immer irrelevant. Je objektiver die Realität schien oder je objektiver sie wahrgenommen wurde, desto unwirklicher erschien sie mir.


«Viele glauben, dass das, was die Fotografie darstellt, die Realität ist. Vielleicht, weil sie an das erinnert, was man sieht.»

Worum es mir wirklich ging, waren die Leerstellen in den Zeichnungen. Die Tatsache, dass die Skizzen so abstrakt und gleichzeitig natürlich sentimental wie die eines Kindes waren, offenbarte tiefgründige Auskünfte über die Wahrnehmung von Raum und Lebensraum. Diese Inseln der Leerstellen waren meine Grundmotivation für die Serie – es war eine Leere, die etwas enthält, zum Beispiel einen verblichenen Parkettboden, einen alten Teppich oder einen Stuhl, der fehlt.

Der Grund, warum diese Dinge fehlten, war mehr als nur ein Vergessen; es war eine Nichtanerkennung ihrer Existenz. Die Mischung aus dieser Erkenntnis und dem Vorhandensein lebendiger Details (ein auf dem Boden liegender Hund oder ein unter dem Tisch vergessenes Spielzeug als «Punktum») ließen das vollständige Bild vor meinem geistigen Auge entstehen.

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Pflanze, Sofa, Schrank: Das Zuhause von Hakob Karapetyan in Eriwan

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Die Teppiche, Kissen, Bilder und Dekorationen sind Leerstellen, die Anush Mkhitaryan in ihrem Zimmer in Eriwwan nicht sieht. Dafür sieht sie anderes vor ihrem geistigen Auge

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Der Hund ist da, aber kommt auf der Zeichnung nicht vor, genauso wenig wie das Ölgemälde und die Uhr: Aleksandr Zhuykov in seinem Zimmer in Eriwan

Wie geht jemand mit Papier und Stift um, der diesen Umgang nicht gewohnt ist?

Diptychen zeigen die Dinge, wie sie sind. Meistens lassen sie Dinge weg und vermitteln dem Betrachter nur die Hauptaussage. Abgesehen von den Lebensgeschichten, die erzählt wurden, oder der Beziehung zwischen Fotograf und Porträtierten, spielte sich vor meinen Augen noch etwas viel Spannenderes ab. Denn für die meisten sehbehinderten Menschen ist der Umgang mit handelsüblichen Stiften und Papier völlig fremd.

Bevor ich also das Foto in Szene setzte, bestand ein Teil des Arbeitsprozesses darin, zu kommunizieren, warum und wie die Zeichnung entstehen sollte. Es gab verschiedene Wege, die Quadrate und Kreise auf das Papier zu bringen: Einige bestanden darin, das Blatt abzustecken, andere darin, die Mitte zu finden und von dort aus zu beginnen.

In der letzten Fotografie hat Vahan das Blatt gefaltet, um tastbare Linien zu schaffen. Diese Methoden sollten vom Fotografen beobachtet und erzählt werden, aber nicht Teil der Serie sein. Vom Anfang bis zum Ende des Arbeitsprozesses hat sich die Bedeutung der Serie für mich verändert und ist zu etwas ganz Neuem geworden.

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Vahan Sargsyan in seinem Zuhause in Wanadsor: Um sein Zimmer zu zeichnen, faltete er das das Blatt Papier, so schuf er tastbare Linien

Im Vergleich zu den Fotografien (oder der Realität) fehlt in den Zeichnungen hier und da vieles. Besonders deutlich werden diese Unterschiede auf dem Foto von Giorgi und Hakob Grigoryan, die sich ein Zimmer teilen. Der Betrachter kann die beiden unterschiedlichen Perspektiven vergleichen.

Eine andere Person (oder Figur) ist Levon Karapetyan, ein blinder Solopianist, der manchmal in Europa Konzerte gibt, um in Eriwan über die Runden zu kommen. Auf der ersten von mehreren Skizzen ist ein Klavier zu sehen, das schon lange nicht mehr dort steht und deshalb auch auf dem Foto fehlt. Was man auf den ersten Blick für ein fehlerhaftes Detail halten könnte, entpuppte sich, als ich mir die Serie Jahre später noch einmal ansah, als Dreh- und Angelpunkt für die Verbindung von Erinnerung und Realität.

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Zwei Perspektiven auf den gleichen Raum: Hakob Babayan und Giorgi Grigoryan in dem Zimmer in Eriwan, das sie sich teilen

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Auf der ersten Skizze, die Levon Karapetyan von seinem Zimmer in Eriwan anfertigte, ist ein Klavier zu sehen, das schon lange nicht mehr dort steht

«Im Falle blinder Menschen könnte man jedoch die Erinnerung als die einzige Fotografie der Realität betrachten.»

«Man spricht oft davon, dass das Fotografieren ein Akt ist, der Erinnerungen festhält – besondere Ereignisse, Aufzeichnungen aktueller Veränderungen, Beweise der Existenz oder ganz einfach das Senden einer Botschaft an zukünftige Generationen und das Bauen von Brücken über die Zeit hinweg». Das habe ich 2022 in meinem Artikel «Über Erinnerung» für ein Vorzeigeprojekt der Bibliothek des International Center of Photography geschrieben. Darin habe ich für den allgemeinen und universellen Wert der Fotografie plädiert.

So kann die Fotografie als Erinnerung an die Vergangenheit dienen. Im Fall blinder Menschen jedoch könnte man die Erinnerung als die einzige Fotografie der Realität betrachten. Da die Erinnerung die Wahrnehmung verändert, wird auch die Realität um sie herum beeinflusst, sodass kein Platz für Objektivität bleibt.

Ich verbrachte viel Zeit im Zimmer von Zurab Paremuzyan, einem Protagonisten der Serie, den ich beim Herrichten seines Desktopcomputers nach den Gemälden und Fotografien an den Wänden fragte. Er beschrieb sie mir in bruchstückhaften Worten, die wie die anderer Leute klangen, Stichworte einer Transformation von Bild zu Text. Es war schwer zu sagen, ob er sich wirklich an sie erinnerte.

Vahan, ein anderer Protagonist der Serie, erzählte mir von seinen Träumen, die zunehmend verschwommener und abstrakter wurden. Er erzählte mir von Zahlen- und Farbassoziationen, die sich in seinem Kopf wiederholten, davon, dass er wusste, dass der Himmel «blau» war und dass man an sonnigen Tagen die Silhouetten von Vögeln sehen konnte. Das half ihm, seine Fantasie am Leben zu erhalten. Man könnte also sagen: Je weniger man sieht, desto subjektiver ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit.

 

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Auf die Frage nach den Gemälden und Fotografien an den Wänden seines Zimmers, beschrieb Zurab Paremuzyan sie in bruchstückhaften Worten, die wie die Worte anderer Leute klangen

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Ein dokumentierendes Einzelbild und ein subjektiver Blick: Karen Gasparyan in seinem Zimmer in Eriwan

 

Auf der anderen Seite steht die Objektivität. Wenn im Falle der Subjektivität weniger mehr ist, heißt das dann: Je mehr man sieht, desto undefinierter werden die Themen und desto mittelmäßiger und banaler ihre Kombinationen?

Nüchterne, dokumentierende Einzelbilder, die keiner Interpretation bedürfen, klischeebeladene Postkartenbilder oder allzu symbolische persönliche Serien – fehlt ihnen allen etwas, während sie versuchen, objektiv verständlich zu sein?

Letztendlich ist also die ganze Serie auf das (mir damals noch nicht ganz bewusste) Machtgefälle zwischen Fotograf und Fotografiertem zurückzuführen, und auch dieser kurze Essay ist eine subjektive Sicht auf eine objektive Sache, die ihr die Form gibt, die sie jetzt hat.

Davit Nersisyan
Davit Nersisyan ist freiberuflicher Dokumentarfotograf und wohnt in Eriwan, Armenien. Er begann seine Karriere in der Fotografie als Bibliothekar in der Mirzoyan-Fotobuchbibliothek. Dort tauchte er in die Welt der Theorie und langfristigen Fotoprojekte ein. Er ist ein Absolvent der Nikon-Noor Masterclass 2021 und des International Center of Photography 2022. Nersisyan konzentriert sich darauf, die Geschichten von Menschen einzufangen, die von den herkömmlichen Medien oft übersehen werden. Mit einem Ansatz, der aus mehreren Kapiteln besteht, verwendet Nersisyan verschiedene Medien wie Fotografie, Bilder und Video, um eine umfassende Erkundung von Erfahrungen und persönlichen Räumen zu ermöglichen. Die ersten drei Kapitel des Projekts wurden 2018 in der Mirzoyan-Bibliothek ausgestellt.
Patrick Ploschnitzki
Dr. phil. Patrick Ploschnitzki ist Assistant Teaching Professor für deutsche Sprache und Kultur an der University of Kansas. In seiner Forschung untersucht er soziokulturelle Diskurse im Kontext von Synchronisation, sowie das sogenannte «Synchrondeutsch» im Zusammenhang mit US-amerikanischem Fernsehen. Weitere Forschungsinteressen sind der Einsatz von Online-Übersetzungswerkzeugen im Fremdsprachenunterricht sowie die Verbindungen zwischen populären Medien und literarischen Traditionen, wie etwa neu definierte Heimatbilder in zeitgenössischen Punk- und Rap-Texten.

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