Pavel Mirny ist Ukrainer und lebt seit Jahren in Russland. Als im Februar 2022 die Invasion russischer Truppen in sein Heimatland begann, fragte sich der Fotograf, was er tun sollte. Statt Russland zu verlassen, beschloss er zu bleiben – und zu dokumentieren, wie die russische Öffentlichkeit mit dem Krieg umgeht, der nicht einmal so genannt werden darf. Als Medium wählte Mirny eine Kinderkamera. Er druckt seine Fotos auf Thermopapier, das normalerweise für Kassenbons verwendet wird. Auf diese Weise will er veranschaulichen, was dieser Krieg kostet: Hunderttausende von Menschenleben. Wahrheit. Vertrauen. Sicherheit. Die Vergangenheit. Die Zukunft. Und so vieles mehr.
Fotos — Pavel Mirny – 18.09.2023
Es ist der Spätsommer des Jahres 2023. Die Zeit vergeht so schnell. Und mir scheint, dass die Menschen hierzulande schon lange nicht mehr in der Lage sind, kritisch zu analysieren, Fakten zu vergleichen und Lehren aus unserer gemeinsamen Geschichte zu ziehen.
Der Krieg mit der Ukraine, der am 24. Februar 2022 ausbrach, befindet sich bereits im zweiten Jahr. Ich erinnere mich noch gut daran, wie alles begann: Am 23. Februar 2022 habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie russische Panzer und Haubitzen auf Bahnsteige geladen wurden. Noch am selben Abend rief ich meine Familie in der Ukraine an – zum letzten Mal vor dem Krieg. Am nächsten Tag war er Realität.
Ich erfuhr die Nachricht vom Ausbruch des Krieges – auch wenn er hier «Spezialoperation» genannt wird – frühmorgens im Zug. Ich wachte auf, weil im Abteil nebenan russische Männer aufgeregt darüber diskutierten, dass sie bald am Ufer von Odessa im Schwarzen Meer baden könnten. Ich bin sicher, dass sie, wie viele andere, die von der russischen Propaganda aufgeladen sind, von einem sofortigen Sieg überzeugt waren.
«Ich erfuhr die Nachricht vom Ausbruch des Krieges frühmorgens im Zug. Ich wachte auf, weil im Abteil nebenan russische Männer aufgeregt darüber diskutierten, dass sie bald am Ufer von Odessa im Schwarzen Meer baden könnten.» — Pavel Mirny
Nachdem ich in meine Wohnung in Moskau zurückgekehrt war, rief ich alle meine Freunde an, die in der Ukraine geblieben waren, und bot ihnen jede erdenkliche Hilfe an. Einige von ihnen wollten mich einfach nicht sprechen. Einige hielten mich für einen Feind und einen Verräter, aber ich kann es ihnen nicht verdenken.
Ich bin Ukrainer, aber ich lebe seit einem Jahrzehnt in Moskau. Es ist ein seltsames Gefühl, man ist kein richtiger Ukrainer, weil man nicht mehr in der Ukraine lebt, und man ist kein Russe, weil man die ukrainische Staatsbürgerschaft und Herkunft hat. Man lebt wie in der Schwebe, zwischen zwei Welten. Nun fand ich mich plötzlich im Land des Aggressors wieder, der mein gesamtes Heimatland angriff.
In den ersten Monaten des Krieges stand ich vollkommen unter Schock. Alles, woran ich denken konnte, waren meine Familie und meine Freunde in der Ukraine, die unter Beschuss standen. Ich versuchte zu verstehen, wie das alles passieren konnte. Schließlich hatte sich kein vernünftiger Mensch vorstellen können, dass ukrainische Städte tatsächlich bombardiert würden.
Zuerst dachte ich, ich würde Russland verlassen und so weit wie möglich weglaufen, wie die meisten meiner Freunde. Aber als ich den ersten Schock überwunden hatte, entschied ich, zu bleiben. Ich hatte die Idee, diesen furchtbaren Moment der Geschichte festzuhalten und zu dokumentieren, was hier vor sich geht. In dieser Situation der Verwirrung und der Ungewissheit hielt ich es für wichtig, weiterhin das zu tun, was ich normalerweise tue. Für mich als Fotograf bedeutete das: zu versuchen, die Ereignisse in Bildern festzuhalten so gut ich kann.
Seit Beginn des Krieges liegt in Moskau eine unerträgliche Spannung in der Luft. Ein Gefühl der Angst, Dissonanz und Unsicherheit. Unmittelbar nach dem Einmarsch in die Ukraine begannen die Behörden, sogar die Sprache zu kontrollieren. Die Worte «Krieg» und «Frieden» sind seither aus dem Sprachgebrauch verschwunden.
Das Machtsystem ist hier so streng, dass jeder, der gegen den Krieg protestiert, ins Gefängnis kommt. Selbst wenn man nur mit einem Plakat auf die Straße geht, auf dem diese acht Sternchen *** ***** stehen, was KEIN KRIEG bedeutet, kommt das einer Straftat gleich. Aber es ist unwahrscheinlich, dass man diese Proteste im Fernsehen sieht oder in den Zeitungen darüber liest, denn die meisten Journalisten, die die Wahrheit über den Krieg und den Terror in Russland geschrieben haben, sind verschwunden.
Die Menschen haben also aufgehört, diese grundlegenden Worte laut auszusprechen, und sie versuchen, ihren Schmerz und ihre Angst hinter einer Vielzahl von Euphemismen zu verbergen. Nur selten, bei Gesprächen in sicheren «Küchen» wie in alten Sowjetzeiten, sind die Menschen offener. Und manchmal, wenn ich eine belebte Straße entlanglaufe und «KEIN KRIEG» an die Wand geschrieben sehe, wird mir klar, dass ich nicht allein bin.
Wie in jedem Land gibt es auch hier gute und schlechte, gleichgültige und mitfühlende Menschen. Aber da ich lange genug in Russland gelebt habe, kann ich sehen, wie sehr sich die Menschen inzwischen verändert haben. Es ist erstaunlich, wie und wie stark die Propaganda funktioniert. Sogar einige meiner Bekannten haben angefangen, jene Worte zu sagen, die immer wieder im Fernsehen wiederholt werden, wie: «Wo bist du in den letzten acht Jahren gewesen?» Oder: «Wenn wir sie nicht angegriffen hätten, hätten sie uns zuerst angegriffen» und so weiter.
Der Höhepunkt der Absurdität war wohl die jährliche Feier zum Tag des Sieges in Moskau am 9. Mai 2022. Das Hauptziel der Propaganda, die ich beobachtete, bestand meiner Ansicht nach darin, die Wahrnehmung der Vergangenheit in den Köpfen der einfachen Menschen mit der Gegenwart zu vermischen. Und ich glaube, dass diese Manipulation in vielen Fällen funktioniert hat.
Der Nazismus und Faschismus des Großen Vaterländischen Krieges wurde mit dem Kampf gegen Nazismus und Faschismus in der heutigen Ukraine gleichgesetzt. Die Behörden in Russland wiederholten die Nazi-Rhetorik des Zweiten Weltkriegs. Ich hatte das Gefühl, dass im Schicksalsjahr 2022 der Krieg, der vor 77 Jahren endete, und der Krieg, der im Februar begann, zu einem einzigen Ereignis verschmolzen und ein einziges Erinnerungsfeld bildeten.
«Ich hatte das Gefühl, dass im Schicksalsjahr 2022 der Krieg, der vor 77 Jahren endete, und der Krieg, der im Februar begann, zu einem einzigen Ereignis verschmolzen und ein einziges Erinnerungsfeld bildeten.» — Pavel Mirny
Besonders surreal war, dass die Stadt voller Fahnen und Poster mit Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg war. Das «Unsterbliche Regiment», der berühmte Gedenkmarsch für den Sieg über die Nazis, bei dem die Menschen Fotos ihrer Verwandten tragen, die im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft haben, wurde von der Regierung in ein weiteres Propagandainstrument verwandelt. Denn es wurden auch Fotos von Soldaten gezeigt, die in der Ukraine gefallen sind.
Ich verfolgte die Militärparade auf dem Roten Platz an diesem Tag mit einem überwältigenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Wut. Es wurde vollkommen klar, dass die Geschichte umgeschrieben und an die heutigen Ereignisse angepasst werden sollte. Und wenn heute so viele meiner Freunde sagen, dass Putin ihnen die Zukunft gestohlen hat, kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, dass er jetzt auch unsere Vergangenheit gestohlen hat.
Die Gesichter der Menschen
Die Mobilisierung wurde in Russland am 21. September 2022 angekündigt. Ich glaube, das kam für viele überraschend, obwohl es meiner Meinung nach, eine logische Folge war. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag und an die Gesichter der Menschen. Ich fuhr durch das Zentrum von Moskau und sah, wie die Menschen endlich begriffen, was los war. Viele von ihnen standen an den Bushaltestellen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln und waren in ihre Gedanken vertieft.
Einige Frauen diskutierten am Telefon darüber, was mit ihren Ehemännern und Söhnen geschehen würde. Gleichzeitig begannen zahlreiche Männer, auch solche mit Familien, das Land in alle Richtungen zu verlassen. An den Grenzen bildeten sich Staus über viele Kilometer. Man traf dort Menschen unterschiedlichster Berufe: Lehrer, Musiker, Klempner, Manager, IT-Fachleute und viele andere, die nicht in den Krieg ziehen und das derzeitige Regime unterstützen wollten.
Ein Fahrer, der mich einmal zu einer Grenze brachte, erzählte mir, dass die Menschen keine andere Wahl hätten, als in den Krieg zu ziehen – vor allem in einer der Regionen im Kaukasus, in der die Zahl der gefallenen Soldaten am höchsten ist. Sein Freund, Militärpilot eines Hubschraubers, sei schon ein paar Mal im Krieg gewesen. Der Fahrer erinnerte sich an dessen Augen, die nach dem ersten Einsatz voller Entsetzen waren. Der Pilot erzählte ihm, dass sie auf dem Rückweg ihrer Mission die Leichen toter Soldaten mitnehmen sollten. So sammelten sie zuerst die Toten ein und legten dann verwundete Soldaten auf sie drauf. Als sie auf ihrem Stützpunkt ankamen, war der Hubschrauber buchstäblich am Bluten.
Mittlerweile kann man niemandem mehr trauen. In Cafés sitze ich inzwischen immer irgendwo in der Ecke, um sicher zu sein, dass niemand hinter meinem Rücken etwas hört oder mein Telefon beobachtet. Allmählich verfällt man in eine Art Paranoia. Aber ich denke, das ist genau das, was die Regierung den Menschen vermitteln will, die immer noch versuchen, sich auf jede erdenkliche Weise zu wehren.
«Allmählich verfällt man in eine Art Paranoia. Aber ich denke, das ist genau das, was die Regierung den Menschen vermitteln will, die immer noch versuchen, sich auf jede erdenkliche Weise zu wehren.» — Pavel Mirny
Die größte Falle für die Menschen im täglichen Leben sind die Kredite, die überall im Land angeboten werden. In der Werbung klingt es so, als könne man innerhalb von 15 Minuten einen Kredit bekommen. Aber sobald man ihn hat, hängt man am Haken: Man hat keine Chance mehr, das Land zu verlassen, wenn man auch nur einen winzigen Kredit hat.
Aber wegen der Armut und des Mangels an Arbeitsplätzen brauchen die Menschen Geld, um ihre Kredite zu bezahlen, besonders wenn ihre Familien in Wohnungen leben, die einst auf Kredit gekauft wurden. Manchmal nehmen die Menschen jetzt Kredite auf, um andere Kredite zu decken. Und das führt sie in eine Sackgasse. Es ist ein weiteres Instrument der Regierung, um die Nation zu kontrollieren und die Menschen auf das Schlachtfeld zu schicken.
Mir scheint, dass die heutigen Ereignisse so schrecklich sind, dass man selbst den Russen, die ausgereist sind, nicht das Mitgefühl versagen kann. Denn sich nicht am Krieg zu beteiligen, alles hinter sich zu lassen und seine Heimat zu verlassen, erfordert zumindest ein wenig Mut – natürlich nicht vergleichbar mit dem Mut, den die Menschen in der Ukraine zeigen.
Und ich? Ich bleibe erst einmal hier. Ich weiß nicht, für wie lange. Und ich mache mir keine Illusionen, dass meine Fotos irgendetwas verändern oder aufhalten werden. Aber im Moment erscheint es mir wichtig, hier zu sein und zu dokumentieren, was in diesem Land geschieht, und den aktuellen Geisteszustand der Gesellschaft festzuhalten.
Ich hoffe, dass meine Fotos all jenen einen Eindruck der Antikriegsgraffitis und Antikriegsbotschaften vermitteln, die sie auf den Straßen ihrer eigenen Städte nicht finden. Ich hoffe, dass sie allen in Russland, die gegen den Krieg sind, helfen zu verstehen, dass sie nicht allein sind. Aber das Wichtigste, was ich sagen möchte, ist: dass dieser monströse Krieg jetzt beendet werden muss.
Für diese Arbeit habe ich absichtlich eine Kinder-Digitalkamera mit schlechter Auflösung verwendet. Ich habe nicht die Absicht, technisch perfekte Bilder zu machen. Ich bin daran interessiert, die Realität zu dokumentieren, die mich umgibt. Und die Verwendung einer Kinderkamera als Arbeitsmittel bedeutet für mich, auch das Thema Kinder in den Blickpunkt des Krieges zu rücken: Die Bilder, die ich aufgenommen habe, spiegeln meiner Meinung nach, die Tradition wider, zukünftige Bürger schon von klein auf systematisch in die militaristische Agenda einzubinden.
Alle Fotos werden auf einem speziellen Thermopapier gedruckt. Das ist das Papier, das jeder von uns nach jedem Einkauf an der Kasse im Geschäft erhält. Für mich gibt es hier eine Menge Symbolik: Der «Kassenbon» scheint mir eine perfekte Metapher für die kolossalen Kriegshaushalte und die durch den Krieg verursachten finanziellen Verluste zu sein. Aber die wahren schrecklichen Verluste und Kosten sind die Leben von Hunderttausenden von Menschen, die in diesem Krieg sterben. Der Verlust von Frieden, Wahrheit, Vertrauen, Sicherheit, Unschuld, Vergangenheit und Zukunft.
Die Bilder auf dem Papier werden langsam verschwinden. So wie unsere Erinnerung an den Krieg eines Tages wahrscheinlich. Doch der große Schmerz wird für Generationen bleiben.
Pavel Mirny
Diese Geschichte wird aus Sicherheitsgründen unter Pseudonym veröffentlicht.
Weiterlesen
Mehr ReVue
passieren lassen?
Der ReVue Newsletter erscheint einmal im Monat. Immer dann, wenn ein neuer Artikel online geht. Hier en passant abonnieren.
Sie möchten unsere Arbeit
mit einer Spende unterstützen?
Hier en passant spenden!
Fotografie ist allgegenwärtig, wird aber in den journalistischen Medien noch wenig hinterfragt oder erklärt. Wer an Journalismus denkt, denkt an Texte. Das digitale Magazin ReVue verfolgt einen anderen Ansatz: Es nähert sich den Themen vom Bild her. In unseren Beiträgen untersuchen wir die Rolle und Funktion von Bildern im Verhältnis zum Text, zur Wahrheit, zum politischen oder historischen Kontext. Wie nehmen wir Bilder wahr? Welche Geschichte steckt dahinter?
Unsere Beiträge erscheinen auf Deutsch, wir übersetzen aber auch fremdsprachige Texte und erleichtern so den Wissenstransfer zu einer deutschsprachigen Leserschaft.
ReVue ist unabhängig. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich. ReVue ist ein Projekt der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.
Herausgeberin
DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V.
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin
ReVue ISSN2750–7238
ReVue wird unterstützt von