Sammlerkolumne
Pezzi di me – Stücke meiner selbst
Was macht eine gute Fotografie-Sammlung aus? Und welche Rolle spielen sowohl die Künstler, von denen die Werke stammen, als auch die Fragen, die sich ein Sammler stellt, während er neue Objekte auswählt? Darüber hat Ettore Molinario für uns einen sehr persönlichen Essay geschrieben. Der italienische Wirtschaftswissenschaftler und Kunsthistoriker zählt zu den einflussreichsten Sammlern von Fotografien in Italien.
Der Prozess des Suchens, Findens, Sammelns
Sammeln ist nicht nur ein Vergnügen, sondern vor allem eine sehr persönliche Angelegenheit: Jeder Sammler ist einzigartig, sei es als Person, sei es in der Auswahl und der Zusammenstellung der «Objekte», weshalb es keine richtige oder falsche Herangehensweise an diesen Prozess gibt. Die für mich wichtige Frage stellt sich nach der «Authentizität» oder dem «Einfallsreichtum» der Sammlung.
Sammeln sollte ein natürlicher Prozess sein, geleitet von den Gefühlen, Interessen, Zielen und der sich entwickelnden Sensibilität des Sammlers, und nicht ein künstlicher, vom Geschmack anderer Leute geprägter. Beim Aufbau einer Sammlung kann man Außergewöhnliches erwerben; es können einem durchaus Fehler unterlaufen, aber auch die sind Teil einer faszinierenden Reise, auf der sich unterschiedliche Gefühle zeigen – Euphorie und Depression, Freude und Melancholie – die alle die Persönlichkeit des Sammlers reflektieren.
Daher verstehe ich meine Sammlung als einen «Spiegel», der meine Identität und mein Leben darstellt. Es ist eine wahrhaft psychoanalytische Reise anhand von Bildern.
Links: «Portrait de Lore» – die Künstlerin Florence Henri porträtierte in den 1930er Jahren die Fotografin und Widerstandskämpferin gegen die Nazis, Lore Krüger. ©Florence Henri, Collezione Ettore Molinario in der Galleria Martini & Ronchetti. Rechts: «Siouxsie» nannte der britische Fotograf Brian Griffin seine Aufnahme von 1984. ©Brian Griffin, Collezione Ettore Molinario
Vom Zufallskäufer zum reflektierten Akteur
Ich sage oft, dass ich «Stücke meiner selbst» kaufe, weil jedes Werk, das ich im Laufe der mehr als dreißig Jahre erstanden habe, Spuren meiner Entwicklung und meines ästhetischen Geschmacks enthält, meines Geistes, meiner Beziehungen zur Gesellschaft, meiner Interessen, meiner Gemütsverfassung, meiner Ziele und Auffassung der Zukunft.
Zu Beginn kaufte ich Fotografien aus rein privatem Vergnügen, ich hatte keine Vorstellung davon, wie man eine Sammlung aufbaut, und meine Käufe waren meist zufällig und unsystematisch. Ich hatte kein künstlerisches Vorwissen und war an keine Vorurteile gebunden. Ich kaufte das, was mir gefiel und nicht das, wozu mir andere rieten.
Darüber hinaus empfand ich Investitionen aufgrund meines beruflichen Hintergrunds im Finanzwesen immer als wichtige Voraussetzung, und vor allem zu Beginn als eine Art «Schutz» vor meinem mangelnden Fachwissen in diesem Markt. Investitionen in dem Sinne, dass man ein geringes Verlustrisiko eingeht, anstatt auf zukünftige Gewinne zu spekulieren. Obwohl mir schon damals klar war, dass Investitionen in Kunst keine kurzfristigen Renditen abwerfen, sondern mittel- oder langfristige Aufwertung erfahren, natürlich mit Ausnahmen.
Die erste Fotografie, die ich kaufte, war «Man with dog» von Joel Peter Witkin. Als ich dieses elegante Bild mit seinem dekadenten Retro-Ambiente 1990 in der Witkin-Retrospektive im Castello di Rivoli sah, erwuchs in mir das dringende Bedürfnis, es zu besitzen und mit nach Hause zu nehmen.
Ich erzählte diese Begebenheit meinem damaligen Analytiker, einem Freudianer, und nach mehreren Minuten des Schweigens sagte er: «Was wollen Sie ... X Millionen Lire, nur um ein Stück von sich selbst zu kaufen...?»
Das war der Funke, der mich dazu brachte, mein Kaufverhalten unter die Lupe zu nehmen. Dieser Moment markierte den Beginn meiner introspektiven Reise via Bilder.
Vom Unbewussten zur Auseinandersetzung mit Identität
Der Prozess der Identifikation mit den Werken entstand aus dem Unbewussten heraus und wurde allmählich deutlicher, und so konzentrierte sich der Großteil meiner Recherchen als Sammler auf das Thema Identität, mit dem Schwerpunkt «Fluidität der Geschlechter».
Die Sammlung wurde also vor dreißig Jahren aus der Erforschung meiner selbst geboren, und hebt sich heute in der italienischen und internationalen Kunst- und Kulturszene als Pioniersammlung hervor, die durchaus «mutig» ist, die sich dem Publikum öffnet und es einlädt, aktiv mit ihr zu interagieren.
Möglich ist das Dank der Universalität der Themen, mit denen sie sich befasst, und so präsentiert sie sich nicht als egozentrische Sammlung, der Welt verschlossen, sondern sie öffnet sich im Gegenteil dem Publikum und damit der Gesellschaft. Die Sammlung wird so zu einer echten Handlungsaufforderung, die die Betrachter ermuntert, sie zu erkunden und durch das Analysieren der Werke eine persönliche Interpretation zu entwickeln.
Die Schlüssel zur Interpretation meiner Sammlung liegen in fünf ästhetischen Kategorien oder thematischen Säulen, die einige der Triebe darstellen, die der menschlichen Psyche innewohnen:
Eros & Thanatos (Lebens- und Todestrieb),
Melancholie (Mangel und Nostalgie),
Fetischismus (die Grundlage der Persönlichkeitsbildung),
neutrale Identität (verstanden als ständige Dialektik zwischen dem männlichen und dem weiblichen Teil)
und Beunruhigung (die Rückkehr des Verdrängten).
Das Gefühl der Verschmelzung
Bei der Eröffnung einer Ausstellung von Michael Ackerman war ich hingerissen von den Aufnahmen, die von Ereignissen erzählten, die sich zwischen Realität und Fantasie bewegen – absolut befremdlich, aber kraftvoll. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch den Künstler kennen, und im Gespräch mit ihm spürte ich das Gefühl der «Verschmelzung» zwischen ihm und seiner Arbeit. Ich hatte den Eindruck, dass er seine Werke war und seine Werke ihn besser repräsentierten als alle Worte. Das hat in mir den Wunsch geweckt, einige Aufnahmen dieser «menschlichen Erzählung» zu kaufen.
In diesem Zusammenhang möchte ich an die Worte von Giovanni Gastel, einer Ikone der italienischen Modefotografie, erinnern, dem ich freundschaftlich verbunden war: «Wenn du eines meiner Werke kaufst, tust du nichts anderes, als es neu zu erschaffen.» Diese Aussage von ihm war aufschlussreich und überzeugte mich von der Bedeutung dieses «magischen Dreiecks» Künstler, Werk und Sammler, in dessen Mittelpunkt immer das Werk steht.
Konvergenzpunkt zweier Identitäten
Der Künstler schafft das Werk, den Spiegel seiner Projektionen, aber wenn ein Sammler es erwirbt, projiziert er seinerseits seine Identität darauf und erschafft es neu. Das erstandene Werk ist also nicht mehr das Objekt, das aus den Händen des Künstlers stammt, weil es mit neuen Werten angereichert wurde: Gerade im Werk findet der Prozess der Identifikation zwischen Sammler und Künstler statt, als Konvergenzpunkt zweier unterschiedlicher, aber verwandter Identitäten.
Ich glaube, dass die Wiedererschaffung des Werks durch den Sammler von grundlegender Bedeutung ist, damit die Sammlung und ihre Werke bestmöglich vermittelt und bewertet werden können. Und genau das ist das Ziel der «Sammlungsdialoge» – die die Beziehungen zwischen den großen Meistern und den anonymen oder wenig bekannten Gestaltern, die oft die Vision der zeitgenössischen Fotografen vorweggenommen und geprägt haben – vertiefen.
Monatlich werden in den Dialogen Themen wie die Suche nach dem Selbst, die Sehnsucht und die Melancholie aufgegriffen. Durch diese Gegenüberstellungen, die durch zeitliche Anachronismen und die Warburg'sche Montage hervorgehoben werden, werden die Bilder neu interpretiert und bringen neue Bedeutungen ans Licht.
Das Museum
Während meiner Sammeltätigkeit habe ich mich oft gefragt, welche Bestimmung ich den Werken der Sammlung geben wollte, abgesehen von einer Ausstellung oder einer Versteigerung. Mein Traum war es, inmitten meiner Werke zu leben und sie mit anderen zu teilen, sie aufzuwerten und sie künftigen Generationen zugänglich zu machen.
Mein Projekt nahm daher mit der Verwirklichung eines Museumsgebäudes Gestalt an, das aus einer umgebauten ehemaligen Silberschmiedefabrik im Zentrum von Mailand im Stadtteil Isola entstand. Das zukünftige Museum wird sich als eine Art Theater präsentieren, in dem Fotografie, Design, Skulptur und Architektur in einem sich ständig verändernden szenischen Kontext miteinander in Dialog treten. Es ist ein Zuhause und ein kulturelles Zentrum, das Kunst- und Fotografie-Begeisterten offen steht.
Weiterlesen
Mehr ReVue
passieren lassen?
Der ReVue Newsletter erscheint einmal im Monat. Immer dann, wenn ein neuer Artikel online geht. Hier en passant abonnieren.
Sie möchten unsere Arbeit
mit einer Spende unterstützen?
Hier en passant spenden!
Fotografie ist allgegenwärtig, wird aber in den journalistischen Medien noch wenig hinterfragt oder erklärt. Wer an Journalismus denkt, denkt an Texte. Das digitale Magazin ReVue verfolgt einen anderen Ansatz: Es nähert sich den Themen vom Bild her. In unseren Beiträgen untersuchen wir die Rolle und Funktion von Bildern im Verhältnis zum Text, zur Wahrheit, zum politischen oder historischen Kontext. Wie nehmen wir Bilder wahr? Welche Geschichte steckt dahinter?
Unsere Beiträge erscheinen auf Deutsch, wir übersetzen aber auch fremdsprachige Texte und erleichtern so den Wissenstransfer zu einer deutschsprachigen Leserschaft.
ReVue ist unabhängig. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich. ReVue ist ein Projekt der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.
Herausgeberin
DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V.
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin
ReVue ISSN2750–7238
ReVue wird unterstützt von