Text — Barbara Stauss
Fotos — Gueorgui Pinkhassov/ Magnum Photos/ Agentur Focus
«Jede Erscheinung kann auf zwei Arten erlebt werden. Diese zwei Arten sind nicht willkürlich, sondern sind mit den Erscheinungen verbunden – sie werden aus der Natur der Erscheinungen heraus geleitet, aus zwei Eigenschaften derselben:
Äußeres-Inneres.
Die Straße kann durch die Fensterscheibe beobachtet werden, wobei ihre Laute vermindert, ihre Bewegungen phantomartig sind und sie selbst durch die durchsichtige, aber feste und harte Scheibe als ein abgetrenntes, im «Jenseits» pulsierendes Wesen erscheint.
Oder es wird die Tür geöffnet: man tritt aus der Abgeschlossenheit heraus, vertieft sich in dieses Wesen, wird darin aktiv und erlebt die Pulsierung mit all seinen Sinnen. (…)»
Mit diesen Worten über das «Äußere und das Innere» leitet der russische Maler Wassily Kandinsky sein Buch mit dem bildhaften Titel «Punkt und Linie zur Fläche» (1926) ein. Als ich Zitat und Buchtitel las, sah ich darin sofort einen versteckten Hinweis zur Lösung des Rätsels, das mir Gueorgui Pinkhassovs Werk stellt, seit ich seinen Fotografien vor 20 Jahren in einer Ausstellung in Berlin zum ersten Mal begegnet bin. Die Bilder zogen mich in ihren Bann, weil sie die Fähigkeit zu besitzen scheinen, uns vom bloßen Betrachter zum Teil einer Erfahrung zu machen. Als ob wir mit ihnen in der Lage wären, die Grenze von der äußeren Sichtweise (im Betrachten des Bildes) zu überschreiten, um ein Element davon zu werden (im Erleben des Bildes).
Wie schafft es Pinkhassov, uns diese Tür zu öffnen, so dass wir buchstäblich in die schillernde Welt seiner Fotografien eintreten und unsere Sinne und Emotionen mit ihr verbinden können? Eine Erklärung sehe ich in Kandinskys Idee der Abstraktion der Form. Wie sein berühmter Landsmann versteht es Pinkhassov, die äußere, vertraute Form der Dinge aufzulösen und sie auf eine neue Art und Weise darzustellen: indem er sie auf ihre ursprünglichen Elemente, auf die einfachsten Punkte und Linien zurückführt und sie gleichzeitig mit einem Geheimnis ausstattet, das wir instinktiv entschlüsseln wollen.
Wie in jeder Fotografie spielt das Licht eine grundlegende Rolle, denn dadurch kann sie erst entstehen und gesehen werden. In Pinkhassovs Fotografien macht das Licht die Objekte nicht immer sichtbar, vielmehr scheinen die Objekte von Licht und Farben eingerahmt zu sein. Die Dunkelheit der Objekte dient dazu, Licht und Farben zu kontrastieren. Und das Licht kann oft noch mehr: es flirrt und treibt ein Spiel mit wilden Punkten oder Spiegelungen. Deshalb haben diese Bilder so oft eine anregende Wirkung auf uns.
Wie schafft es Pinkhassov, uns diese Tür zu öffnen, so dass wir buchstäblich in die schillernde Welt seiner Fotografien eintreten und unsere Sinne und Emotionen mit ihr verbinden können?
Beim Betrachten von Pinkhassovs Fotografien entsteht das Gefühl, das Banale und Oberflächliche überwunden zu haben, um so zum Kern eines Motivs vordringen zu können. Fast so, als ob wir die Natur der Dinge erst verstehen können, wenn wir sie in Form einer seiner Fotografien betrachten. Es ist, als ob seine Bilder uns helfen, abstrakt und gleichzeitig sinnlich zu denken. Pinkhassovs Muse, die sich, wie er selbst immer wieder betont, vor allem aus seiner Neugierde speist, braucht kein bestimmtes Thema oder Sujet. Sie kann sich an jedem Ort entfalten, auf einer Ölplattform, in der Tundra, in der Pariser Metro, sogar in einem weißen leeren Raum. Ich bin überzeugt, er könnte das Nichts fotografieren.
Trotzdem bleibt jedes Vergleichen oder der Versuch seine Fotografien mit Worten zu interpretieren, eine vergebliche Übung, denn Pinkhassov würde beides ablehnen. Seine Kunst ist «abstrakt», weil nicht der Gegenstand das Motiv der Darstellung ist, und weil sich Pinkhassovs galoppierender Geist für einen Moment in seinen Fotografien materialisieren kann.
«Selbst der Stil kann einen zum Sklaven machen, wenn man nicht vor ihm wegläuft, und dann ist man dazu verdammt, sich zu wiederholen. Das Einzige, was zählt, ist die Neugierde.» — Gueorgui Pinkhassov
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