Text — Franz Wanner
Das 18. Jahrhundert war vom Zusammenwirken zweier für den Menschen der Neuzeit fundamentalen Entwicklungen geprägt. Zum einen war es, als Folge tiefgreifender sozialer Veränderungen, die in der französischen Revolution 1789 ihren eigentlichen Ausdruck fanden, der Zusammenbruch der Glaubenswelt. Zum anderen die fortschreitende Entfaltung der exakten Naturwissenschaften, die als Erbe der Forscher-Künstler der Renaissance ein Weltbild der Tatsachen jenseits von Glaubensfragen begründeten. Diese beiden zentralen Faktoren ließen auch das Selbstverständnis des Künstlers nicht unberührt und zusehends sah er sich in seiner gesellschaftlichen Rolle vor eine neue Ausgangslage gestellt. Mit dem Verlust der bisher wichtigsten Auftraggeber, der Kirche und der souveränen Potentaten, war er gezwungen, vermehrt bis ausschließlich auf eigenen Auftrag und auf eigene Kosten zu agieren.
Obwohl das Kunstverständnis der Moderne demnach im 18. Jahrhundert wurzelt, ist es sinnvoll, mit der Erfindung der Fotografie als einem neuen bildgebenden Medium von einer eigentlichen Zäsur im Verhältnis der Künstler zu ihrem Metier zu sprechen. Denn mit der Fotografie, die von den Künstlern begrüßt und als Befreiung von der latent vorhandenen Forderung der Gesellschaft nach Abbildtreue empfunden wurde, begannen die Künstler auf eigengesetzliche, jenseits aller mimetisch-narrativen Werte sich vollziehenden Schöpfungen zu pochen, deren einziger Zweck im jeweiligen«Kunst-Sein» zu liegen habe. Eine Kernaussage Claude Monets zu seinen künstlerischen Intentionenvermag das verdeutlich: «Das Motiv ist für mich eine unwesentliche Sache; was ich wiedergeben möchte, ist das, was es zwischen dem Motiv und mir gibt».
Die Fotografie bildete demnach einen unumstößlichen Schnittpunkt im Umgang und im Verständnis mit dem Bild. Der moderne Mensch ist durch das fotografische Sehen geprägt. Er nimmt Bilder zunächst als Momentaufnahmen, als eine verlässliche Berichterstattung wahr. Doch dieses Selbstverständliche des dokumentarischen Anspruchs löst sich in der heutigen Zeit durch das Phänomen der Bildmanipulation und der virtuellen Bildkonstruktion ins Bodenlose auf.
«Das Motiv ist für mich eine unwesentliche Sache; was ich wiedergeben möchte, ist das, was es zwischen dem Motiv und mir gibt.» — Claude Monet
Zu Beginn wurde die Fotografie von den Künstlern als ein willkommenes gestalterisches Hilfsmittel begrüßt, anhand dessen sich etwa flüchtige, sich wandelnde Lichteffekte studieren ließen. Wie die Arbeitsweise von Eugène Delacroix und Gustave Courbet schon Jahre vor dem Auftreten der ersten Impressionisten belegt, kam die Fotografie auch an Stelle bezahlter Modelle in der Figurenmalerei zum Einsatz.
Selbst Giovanni Segantini, der «Maler der Schweizer Alpenwelt», entwarf die weiten Gebirgspanoramen anhand selbstgefertigter Fotocollagen (Abb. 3). Und für Edgar Degas und Georges Seurat bot die Fotografie Einblicke in bisher ungeahnte Lichträume und verschiedenartigste Belichtungsmuster, die sie in malerische und zeichnerische Bildstrukturen überführten. Für die Künstler war die Fotografie keine Konkurrenz, sie sahen in ihrer Offenheit zu diesem neuen Medium vielmehr den Beleg für ihre eigene Avanciertheit.
Platon formulierte vor 2500 Jahren die erste Kritik an den «illusionistischen Machenschaften» der Künstler und plädierte für den Abdruck und gegen das gemalte Abbild.
Untrügliches Zeichen dafür war, dass die erste Impressionistenausstellung, die gleichzeitig die erste Kundgebung einer unabhängigen Künstlergruppierung bildete, 1874 im Atelier des Fotopioniers Nadar am Boulevard des Capucines 35 in Paris stattfand (Abb. 4).
Erst im Verlauf der weiteren Entfaltung der Moderne entpuppte sich das wahre Potential, das die Fotografie als Sprengkraft für die Kunst bereit hielt. Diesen Zusammenhang analysierte Walter Benjamin in seiner epochalen, in den Jahren 1935/36 verfassten Schrift «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» präzise. Er verortete das Wesen des Kunstwerks grundsätzlich in der Aura seiner Einmaligkeit und Authentizität. Implizit bedeutete das, dass das Kunstwerk kein massentaugliches Medium war, sondern ein Werk, das von einem Einzelnen, dem Künstler geschaffen wurde, und an einen Einzelnen, den kontemplativen Betrachter, gerichtet war. Benjamin vertrat die Auffassung, dass diese fundamentale Tatsache eines jeden Kunstwerks durch die plötzliche und massenweise Reproduzierbarkeit, wie sie Fotografie und Film ermöglichten, beschädigt würde – eine Feststellung, die heute angesichts des Diktats des Konsums im Medienzeitalter nichts an Aktualität verloren hat.
Benjamin, der seinen Text zur selben Zeit wie Martin Heidegger seine Schrift «Der Ursprung des Kunstwerks» verfasste, kann neben der «Ästhetischen Theorie» (posthum 1970) von Theodor W. Adorno als der wichtigste Beitrag zur philosophischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.
Die Fotografie scheint seit ihrem ersten Auftritt uralte Wünsche zu bedienen, die sich nicht auf den ersten Blick erhellen. Schon ihr «Erfinder», der Franzose Joseph Nicéphore Niépce, der 1826 den Blick aus seinem Arbeitszimmer auf einer mit Asphalt bestrichene Metallplatte festhielt, indem er diese mehr als acht Stunden dem Sonnenlicht aussetzte und derart das erste Direktpositiv erhielt, gab seinem Werk den bezeichnenden Namen «Heliographie»: Sonnenzeichnung (Abb. 5). Mit Licht, nicht mit der Hand, war das Werk «gemalt» und war ein wahrhaftiger Abdruck der Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die nun nicht mehr durch dasjenige verstellt wurde, was der Künstler für auswählenswert bzw. für unerheblich erachtete oder was schlicht seinem Vermögen bzw. Unvermögen zum Opfer fiel.
Es ist bezeichnend, dass Louis Daguerre, mit dem Niépce am Ende seines Lebens eine Geschäftsbeziehung eingegangen war, seine erste befriedigend belichtete Aufnahme von 1837 nicht mehr Heliographie, sondern diese personalisierend, nach seinem Namen„Daguerreotypie“ nannte (Abb. 6). Da war Niépce, der nicht sich als Urheber seines Bildes sah, sondern die Sonne, schon seit vier Jahren tot.
Dieses neue Bild konnte künftig auf den Künstler als Mittler verzichten, denn es war auf«wunderbare» Weise ein Abdruck des Lichtes selbst; eine unwiderlegbare Tatsache, die zudem auf einen seit Platon schwelenden Vorwurf wies, der auf der Kunst lastet. Platon nämlich formulierte vor 2500 Jahren die erste Kritik an den «illusionistischen Machenschaften» der Künstler und plädierte für den Abdruck und gegen das gemalte Abbild. Er entfaltete seine Argumente gegen eine die Wirklichkeit bloß vortäuschende Kunst im berühmten «Bettgestell-Gleichnis», welches das 10. Buch seiner Schrift zum Staat «Politeia» abschließt.
Der Philosoph entwickelte darin seinen Kanon von Bild, Abbild und Urbild und kritisierte die nachahmende Kunst mit ihrer «Ästhetik des Lebendigen» als Spiegeltrick und Illusion. Den vorgespielten Werten der Kunst zog er den handwerklichhergestellten Gegenstand als tatsächlichen Abdruck des Logos vor. Dieser wolle, im Gegensatz zum Kunstwerk, nicht mehr sein, als was er ist: «tote Materie», mechanisch und handwerklich hergestellt, ohne versteckte künstlerische Ambitionen.
Dieses Verdikt gegen das Bild wurde tausend Jahre nach Platon von den frühchristlichen Theosophen bei ihrer Konzeption der «Vera Icona» aufs Neue bemüht. Um sich von den Bildpraktikender antiken Welt, die Götterbilder aus Holz, Stein und Bronze verehrte, abzugrenzen, befolgten die frühen Christen ein striktes Bildverbot. Der Wunsch nach Bildern ist aber eine urmenschliche Eigenschaft und von Christus, dem «Mensch gewordenen Gottessohn», der als Ebenbild des Menschen erschien, war es nur natürlich, ein Bild zu besitzen. Diesem Wunsch entsprach, dass in verehrten Tüchern angeblich der Abdruck von Christus erhalten sei; zum einen handelt es sich um das sogenannte Schweißtuch der Veronika (ihr Name leitet sich aus dem Begriff der «Vera Icona» ab), das in mehreren Varianten erhalten ist und das Antlitz Christus konserviere, zum anderen das«Sacra Sindone», das, so die Legende, als Turiner Grabtuch den Abdruck des Körpers von Christus dokumentiere.
Angelehnt an diese Matrizen entwickelte sich, nun als gemalte Bilder, ab dem 3. Jahrhundert eine christliche Bildtypologie, in welcher selbstverständlich Gott verehrt wurde. Da die Grenze zwischen Verehrung und Anbetung nicht scharf zu ziehen war, brachte diese Bilderverehrung die frühen Christen nun ihrerseits in den Konflikt der Idolatrie. In der Folge entbrannte ein erbittertgeführter Kampf für und gegen das Bild. Den einzigen «Künstler», den man als Maler akzeptierte, war der Apostel Lukas (Abb. 7). Als Heiliger wandte er sich der Malerei zu und schuf die ersten Bilder von der ihm auf wunderbare Weise Modell stehenden Maria mit ihrem Kind.
Auch den Künstlern der anbrechenden Moderne war das Künstlergenie mit seinen «artistischen»Tricks suspekt. Sie setzten alles auf den Geist, der quasi voraussetzungslos und ohne Bindung an eine wie auch immer geartete handwerkliche Gestaltung seinem Wesen zur Geltung verhalf. Damit verschoben sie den Fokus vom wundersamen Werk auf das Sachliche und Unartistische – alles Gewicht wurde auf das Auge gelegt, die Hand spielte dabei keine Rolle mehr.
Dass die Fotografie, welche die Künstler sich anfänglich als objektives Hilfsmittel und Werkzeug dienstbar gemacht hatten, ihr usurpierendes Potential, das sie für die Kunst bereithielt, entfalten würde, war nur eine Frage der Zeit. Epochen, in denen das Künstlerische im Sinne des Artistischen, das fest an das Können und Vermögen des jeweiligen Individuums gebunden war, zugunsten einer überindividuellen Erscheinung des Gestalteten zurückgebunden wurde, gab es immer wieder.
Der Islam sah bekannterweise in einem strikten Bildverbot die schlagkräftigste Waffe für die Etablierung der Macht und vertraute alleine auf die Zeichen der Schrift, die als Koran alle Bereiche der Gemeinschaft regelte. Die Absage an das Bild war in den Anfängen des Islam mithin dessen schlagkräftigstes Argument gegen die im Streit unheilvoll entzweite frühchristliche Kirche.
In der Renaissance gab es mit der Intarsie eine Kunstform, die eine Zwischenzone zwischen gemaltem Bild und der Wirklichkeit besetzte (Abb. 8). Sie behauptete eine hohe Position unter den Bildtechniken, als mit der Perspektive ein gültiges Werkzeug installiert wurde, um die Welt nach optischen Gesetzen zu begreifen und wiederzugeben. Die Intarsie war ein Gemeinschaftsprodukt von Handwerkern und Künstlern, die in Mathematik und Optik gebildet waren und eher wie Planer, als Maler oder Bildhauer operierten. Die Meister der Intarsien bildeten einen letzten Widerstand gegen die nun die Bühne der Kunst stürmenden «Superartisti», die autonom agierten und jeglichen Hinweis auf handwerklichen Einsatz vermieden, wie es Michelangelo («Il Terribile», wie er von den Zeitgenossen genannt wurde) in jeder Beziehung personifizierte. Das «disegno» als unmittelbarer Ausdruck des genialen Geistes löste die technische Perspektive als Mittel zur Überhöhung der Kunst allmählich ab. Der Künstler war nun bestrebt, als «Kopfarbeiter» zu erscheinen, der sich nicht durch seiner Hände Arbeit ernähren musste. Michelangelos berühmter Ausspruch: «Man malt mit dem Kopf, nicht mit den Händen», bezeugt das eindrücklich.
Das Kunstwerk als eigengesetzliches «Supermedium» bildete sich heraus, und damit das Konzept des Künstlers im modernen Sinn, der schrankenlos und unentwegt Neues schafft. «Ein Mann klettert auf einen Berg, weil er da ist. Ein Künstler macht Kunst, weil sie noch nicht da ist» so der Minimal-Art-Künstler Carl Andre zu seinem Selbstverständnis als Künstler.
Die illusionistische Bildintarsie erlebte im 15. Jahrhundert ihre Blüte. Ihr Grundproblem kreiste um die Möglichkeit, die dreidimensionale Wirklichkeit der Welt auf eine zweidimensionale Fläche zu bannen. Im Unterschied zur Malerei steigerte sich bei der Intarsie diese Frage zusätzlich, da das hölzerne, brettartige Grundmaterial das Flächenhafte des Bildes noch betonte.
Die Perspektive als raumgenerierende Konstruktion wurde für diese Epoche zum Dreh- und Angelpunkt. Im Vorgang der Täuschung setzte sie einen Sehprozess in Gang, dessen Ziel in der Erkenntnis lag, den Zusammenhang zwischen Abbild und Wirklichkeit zu verstehen.
Bei der Intarsie sind, wie bei der Fotografie, der Apparat der Herstellung und die damit verbundenen handwerklichen Verrichtungen von der Tatsache des Bildes, der vom Bild ausgehenden illusionistischen Wirkung, getrennt. Die Trennung von Ursache und Wirkung räumte dem älteren Medium für einige Jahrzehnte eine Schlüsselstellung innerhalb der Künste ein, war aber schließlich, und nicht zuletzt wegen ihrer sachlichen Grundlage, dem sich etablierenden Künstlergenie unterlegen. Die Fotografie hingegen entpuppte ihr wahres Potential, nachdem sie jahrzehntelang allein ihrem dokumentarischen Wesen genügt hatte. So verhalf die scheinbar absichtslose Haltung eines Künstlers, der sein Auge nur auf die Tatsächlichkeit fokussierte und trotz dieses dokumentarischen Blicks das Wunder der Erscheinung zelebrierte, dem Medium letztlich zum Kunststatus. Der Künstler-Fotograf ist der Chronist der Wahrheit, und das besorgte ihm wieder die herausragende «Superstellung», die der Künstler seit dem so genannten «Ursprung der Neuzeit»im 15. Jahrhundert mit allen Mitteln erstrebte.
Wie zwiespältig diese Haltung ist, offenbart sich, wenn die ehemaligen Schüler der Künstler-Fotografen Bernd & Hilla Becher Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Ruff und Thomas Struth, deren Werke als die «neue deutsche Objektivität» gefeiert werden, den Realitätsgehalt ihrer «wahrheitsgetreuen» Bilder im Computer generieren und sich so die Wirklichkeit, sei es eine künstlerische, politische oder soziologische, zwischen Schein und Sein verflüchtigt.
«Man malt mit dem Kopf, nicht mit den Händen» — Michelangelo
Kein anderer Künstler fokussiert sein «Bild» so beharrlich auf dem ästhetischen Blick und dem gelungenen Moment wie der Fotograf. Kompromisslos außerhalb des Schönen und Gelungenen sind diejenigen Werke von Jeff Koons verortet, die sich explizit auf das Medium abstützen. Der vom gegenwärtigen Kunstmarkt höchstdotierte Exponent der Gegenwartskunst, und nach beinahe einem halben Jahrhundert nach wie vor äußerst kontrovers diskutierte Künstler, setzt die Fotografie in der Regel nicht als künstlerisches Ausdrucksmittel, sondern ganz prosaisch als Reproduktionsverfahren und Werkzeug der Bildrealisierung ein. Im Werk des Künstlers gibt es aber bezeichnende Ausnahmen.
Analog zu den Strategien der «Vera Icona» der Theosophen der Spätantike setzt Jeff Koons auf das Zauberhafte, das dem Unberührten innewohnt und als Grundsubstanz die gesamte künstlerischen Arbeit von Koons durchwirkt: «Unberührtheit heißt für mich nicht einzugreifen. Wenn ich mit einem Objekt arbeite, achte ich immer sehr darauf, es weder physisch noch psychisch zu manipulieren. Vielmehr versuche ich einen bestimmten Aspekt in der Persönlichkeit des Objekts herauszustellen», so der Künstler 1986.
Unberührtheit bildet auch den magischen Kern der tonnenschweren Stahlskulpturen von Koons, deren Hermetik der spiegelglatten Oberflächen jeden Betrachter in emotionale Verzweiflung stürzt. Doch es sind die wenigen choreografisch inszenierten und fotografisch festgehaltenen Modellanordnungen des Künstlers und seines Modells, den Fotoarbeiten der «Made in Heaven»-Serie, die die aporetische Spannung zwischen dem künstlerischen Akt und der Unberührtheit auf die Spitze treiben und dies liegt wesentlich in dem dafür explizit eingesetzten Medium, der Fotografie.
Als Reproduktionstechnik liegt sie ausnahmslos allen Gemälden von Koons zu Grunde, jedoch nur bei einigen wenigen Werken aus der Serie «Made in Heaven» ist sie nicht als Werkzeug der Bildproduktion eingesetzt, sondern ist selbst das Werk. Innerhalb der schmalen Werkgruppe «Made in Heaven» bildet die Fotoarbeit, «Ilona’s Asshole», mit ihrer entwaffnenden Direktheit den Angelpunkt: Als Inkjet-Reprint hält sie stellvertretend dauerhaft den Augenblick ursprünglicher Unberührtheit im Geschlechtsakt fest. «Ich wollte den Garten Eden nachbilden», so Koons.
Die Unberührtheit bezieht sich aber nicht nur auf die unschuldige Koexistenz des ersten Menschenpaares im Paradies, sie bezieht sich unausgesprochen auf das folgenschwerste aller Experimente der klassischen Moderne, der «Entdeckung» des Ready-mades durch Marcel Duchamp.
Neben seiner Kritik an der genialischen Attitüde seiner Pariser Künstlerkollegen der Kubisten, allen voran Picasso, erprobte Duchamp damit die häretische Frage, ob Kunst als geistige Haltung, ohne all die Machenschaften und Manipulationen der Künstlerhand, möglich sei. Unter den wenigen Gegenständen aus dem Reich der alltäglichen Warenwelt, die nach Duchamps Ansicht sich überhaupt zum Ready-made eignen, war dem «Fontaine» betitelten und unverzüglich als «Buddha of the Bathroom» in der Kunstzeitschrift «The Blind Man» von Duchamp selbst gefeierten Porzellan-Urinal eine herausragende Rolle beschieden.
Eine unabdingbare Voraussetzung für den buchstäblich weltumspannenden Erfolg gerade dieses Ready-mades, war dessen physische Inexistenz, denn das Werk kursierte in der Welt der Kunst, lange bevor dieses durch die Initiative des Mailänder Galeristen und späteren Duchamp-Exegeten Arturo Schwarz im Einverständnis mit dem Künstler 1964 zusammen mit seinen wenigen «Geschwistern», nun aber als akkurate handwerkliche Repliken, hergestellt wurden. Jahrzehnte existierte es nur als eine Fotografie (Abb. 9), die der Künstler, Fotograf und Galerist Alfred Stiegliz in seiner Galerie «291» von dem Werk herstellte, bevor es für immer von der Bildfläche verschwand. Und als dieses fotografisch festgehaltene Dokument trieb das Ready-made «Fontaine» aus dem Jahr 1917 sein aporetisches Unwesen in den Köpfen der Künstler und allmälich auch in der Kunstwelt.
Mit Jeff Koons schließt sich der Kreis um das von artistischen Manipulationen unberührte, einzig der Macht der «Grauen Zellen» anvertraute künstlerische Werk, wie es vor über hundert Jahren von Marcel Duchamp injiziert wurde. Bei Koons Werkserie «Made in Heaven» und zugespitzt auf das fototechnisch erzeugte Werk «Ilona’s Asshole» handelt es sich um eine ähnlich ikonische Arbeit, wie bei Duchamps «Fontaine». Die Frage bei Koons ist nach wie vor die Frage nach der künstlerischen Freiheit und der Unabhängigkeit der künstlerischen Form, aber nicht mehr zugespitzt auf die Frage:
Kunst oder Sanitärartikel, sondern Kunst oder Pornografie, mithin einem der latenten Abgründe der Fotografie seit ihren Anfängen.
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