Dies ist die Geschichte des Zuckerbäckersohns Edgar Herbst, der zum visuellen Aufzeichner avanciert. Er notiert seine Wahrnehmungen des Aufwachsens in der Harzer Natur in der späten Nachkriegszeit und irrt auf unbestimmten Pfaden der Provinzen bis in die Metropolen Frankfurt - Hamburg - Berlin. Anerkennung suchend und Aufmerksamkeit erweckend, mit zerfleddertem Smoking und brandlöchrigem Seidenschal, selten ohne Hut, schenkt er sein Auge der gesellschaftlichen Dekadenz, übermütig in der Darstellung seines Gegenüber und seiner selbst. Aus diesem geistigen und materiellen Archiv soll –schonungslos und gleichsam von Selbstironie gezeichnet – ein Buchwerk panoptischer Fülle entstehen.
Text — Edgar Herbst
Fotos — Archiv Edgar Herbst
1961
Drei Monde hatte ich mich im Bauchsalon meiner Mutter eingenistet, da vernahm ich ein unruhiges Pochen des Herzens über mir.
Der Himmel in erbarmungsloses Azurblau getränkt, die zum Höhepunkt aufgestiegene Sonne als natürlicher Scheinwerfer für das Spektakel der Waghalsigen.
Die Kandahar-Abfahrt in Garmisch-Partenkirchen war im Februar 1961 Schauplatz der Deutschen Alpinen Skimeisterschaften. Die enthusiastische Athletin Waltraud Herbst ließ es sich trotz der besonderen Umstände nicht nehmen, als Vertreterin des Harzes an dem berüchtigten Rennen zu starten – zu zweit!
Die Hülle meiner zarten Behausung wurde von einem Cocktail aus positiven körpereigenen Botenstoffen durchströmt. Die Fahrt führte in die Tiefe, in einen schneeweißen Abgrund. Dabei trugen die Streckenabschnitte die biblischen Nennungen «Himmelreich», «Höllentor» und «Hölle».
Ich fühlte ein Schweben, ein Scharren, ein Kurven, ein Rasen, ein Gleiten, doch auch ein Purzeln, abwechselnd mit schwerem und leichtem, tiefem Atem.
Bei der glücklichen Ankunft im Ziel erstrahlte das Inferno in unschuldigem Weiß.
2000
Der Pfad zum sumpfigen Parkett führt über glitschige Stiegen. Aus den Logen quellen die Augen auf die in ausufernder Ekstase in Frack und Robe Zelebrierenden.
Der Ballsaal wandelt sich zum Urwald. Regentropfentragende Scheinwerferlichter scheinen durch die barocken Wände. Kreischende Affen schwingen vergnügt von einem Kronleuchter zum anderen. Die Bühne ist ein rotfarbiger champagnergefluteter Wasserfall, Krokodile lungern hungrig im Orchestergraben, Schlangen schlängeln sich zum Würgen bereit durch Perl- und Lackschuh. Der Zapfenglöckner thront in den himmelsnahen Baumwipfeln und lässt seinen Ruf nach Liebe ertönen.
Der Auslöser meiner Kamera ist mit Moos überwachsen, die Linse schummrig und beschlagen. Der Kameraspiegel des verzweifelten Narren ist blockiert – ein Bild ist nicht zu nehmen.
Lesen Sie hier Teil 1 der Serie
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