Text — Barbara Stauss
Fotos — Igor Elukov
Am Ende unseres Gesprächs erklärt der 1991 in Russland geborene Fotograf Igor Elukov «Ich bin nicht einer, der träumt». Seine Familie hat seit mehreren Jahrhunderten in Sibirien gelebt. Daher, sagt er, rühre seine starke Verbindung zur Landschaft, zu den Gerüchen, der Horizontlinie, dem niedrigen Himmel, der Art wie dort gesprochen wird. All das erscheine ihm wie ein Code, der es ihm erlaube, ein Versteck zu öffnen. Betrachtet man seine Bilder, will man seinen Worten Glauben schenken.
«Am Ende sind die Menschen nur ein Teil der Landschaft. Und nicht der interessanteste Teil davon. »
Igor Elukov bleibt beim Erzählen im archaischen Bild: «Ich nehme meine Waffe, gehe auf die Jagd und werde leer und sorglos. Was sonst benötigt man für seine Schaffenskraft als Leere und gleichzeitige Sorglosigkeit! Ich bin von der kreativen Kraft fasziniert, die ich im Norden in den Menschen erkenne. Wenn sie jemanden beerdigen, hören sich ihre Klagen an wie ein griechischer Chor. Ihre gegenseitigen Beleidigungen sind so eindringlich wie die der Helden italienischer Dramen. Dort können sie Geschichten erzählen, als würde man einen Film von Fellini schauen.»
Er spricht von Reichtum und Kraft und davon, dass dort alles so einfach ist. Bei Elukov sind das nicht nur Worte, bei ihm geht es nicht ums Träumen, es ist keine romantisierende Gefühlsduselei, wenn er sagt, dass die nördliche russische Landschaft, das Wasser, der Wind und der Schnee, ihn, den Menschen elementar mache.
Elukovs Beziehung mit dem Land, mit dem Wind und Schnee. Er kann sie mit niemandem teilen. Das sei so unmöglich wie seinen Tod mit jemandem zu teilen. Am Ende interessieren ihn der Wind, das Wasser und das Leben der Krähen nicht weniger als das menschliche Leben.
Er vermeidet in der Arbeit den Anthropozentrismus, er sagt, er war nie besonders interessiert an Menschen, ihren Emotionen und Gefühlen.
Am Ende sind die Menschen nur ein Teil der Landschaft. Und er betont: «Nicht der interessanteste Teil davon. Ich denke, wenn man das Anthropozentrische verlässt, wird es möglich, interessantere Dinge zu erfassen. Eine gewisse Gedankenwelt Platons.»
Und wie «baut» er seine Bilder? Erneut antwortet er bildhaft. Er erzählt, dass er als Kind nie gesagt hätte, das Wetter sei schlecht oder das Wetter sei gut, denn ihm habe jedes Wetter eine besondere Art von Vergnügen versprochen. Genau so fotografiere er. Er denke nicht daran, ob etwas gut für ihn sei oder schlecht, denn jeder Zufall verspräche eine einmalige Zugabe zum Muster des Lebens.
Er sucht nach der Überraschung, nach etwas, das in ihm etwas Göttliches, etwas Originäres, wichtige Gefühle weckt: «Wir müssen uns von allem Bekannten befreien und bereit sein, in den unbekannten Raum hinaus zu gehen. Ich nenne es zu sterben. Ich sage mir: 'Ich bin tot. Was ist vor mir? Was ist los mit mir? Welche Gefühle mache ich durch?'» Man wisse nie, wo die Überraschung auf einen warte, es bleibe einem, ständig darauf vorbereitet zu sein. Für die eigenen Fotografien bereit zu sein.
Er sagt: «Ich schaue mit derselben Aufmerksamkeit nach draußen und in mich selbst. Und manchmal beginnt in mir das, was ich außerhalb sehe, die Linien und Punkte, mit mir zu schwingen, sie wecken in mir vage Gefühle von tiefem ontologischem Gespür für das Leben. Ich verstehe immer noch nicht genau, was das ist, aber genau dann drücke ich auf den Auslöser.»
Künstler oder Fotograf?
Elukov erlaubt sich keine Inszenierungen, beschneidet oder manipuliert keine Bilder. Anfangs hat er sogar ausschließlich auf Film gearbeitet. Er bezeichnet sich als Dokumentarfotograf.
Seine Antwort ist eindeutig, aber nicht eindimensional, denn er fügt sofort hinzu, wenn man sich das Leben als Ganzes anschaue, könne man sich nicht von seinen Fantasien, Träumen und Ängsten abwenden. Von Spielen und Epen. All dies sei ebenso Teil des Lebens wie das, was wir als «Realität» bezeichneten.
So muss denn die vollständige Antwort lauten: All dies zusammen dokumentiere er. Und er setzt nach: Er füge nichts von sich selbst hinzu, seine Fotografien besäßen einen «Inhalt mit realer Zusammensetzung», oder anders «das, was es gibt, im Hier und Jetzt».
Bei so viel Metaphysik drängt sich die Frage auf, ob er denn nicht glaube, dass alles in uns steckt und wir es nur finden oder entdecken müssen, in den Umständen und in uns selbst. Ist denn die Fotografie ein Art Abbild davon? Er spricht von Michelangelo und darüber, was dieser über die Skulptur gesagt hat. Der Marmor enthalte in sich bereits die Skulptur, man müsse sie nur sehen und sie befreien. Es sei notwendig, einen Marmorblock zu nehmen und alles Überschüssige von ihm abzuschneiden.
Johann Sebastian Bach hat es für ihn noch genauer ausgedrückt: «Um Musik zu spielen, muss man nicht lernen. Darin liegt nichts Schwieriges. Es ist nur notwendig, zur richtigen Zeit die Finger auf die richtigen Tasten zu drücken.» Er selber «komponiere» beim Fotografieren nicht, er befreie einfach das Überflüssige und Unnötige aus einem bereits vorhandenen Foto. Und schaffe damit eine Art ontologisches Ebenbild. Nicht von ihm erdacht oder erfunden. Er muss es nur im Innern und Äussern entziffern.
Vielmehr stellt sich die Aufgabe, in einem Geisteszustand zu sein, der es einem ermögliche, diese Bilder zu erkennen. So hatten denn auch den stärkstes Einfluss auf seine Beschäftigung mit der Fotografie nicht andere Fotografen, sondern die Methoden des Hesychasmus oder der Zen Buddhisten. Elukov übernimmt sie und verschiebt sie auf die Fotografie.
Dreht man die Spirale weiter, stellt sich die Frage, ob denn auch er als Autor, Fotograf, im geschaffenen Bild sichtbar wird und ob er gar Teil des Bildes sei.
Die ideale Variante wäre, wenn er verschwinden könnte, antwortet er lapidar. Er meint damit nicht «im Bild» verschwinden, sondern tatsächlich. Er möchte direkt auf die Welt schauen können, ohne Verzerrung, die Konditionierung, Erfahrung, Wissen, Wünsche und Emotionen verursachten. Sobald er aus all dem verschwunden wäre, könnte er sich erst der Echtheit dessen, was er sieht, fühlt und denkt, sicher sein. Solange diese Bedingung nicht erfüllt sei, könne er sich und seinen Fotos nicht trauen, glaubt er. Deshalb eben der Norden, der Elemente wegen.
«Dies ist ein sehr ungewöhnliches Gefühl, wenn es zwischen dem Leben und Dir nichts gibt. Es bleibt nur etwas Minimales von mir da. Ein bestimmter Kern. Offensichtlich ist dies der Kern, in dem wir uns als Individuen voneinander unterscheiden.» Er meint damit nicht profane Dinge wie unterschiedliche Meinungen oder Gefühle, gelebte Erfahrung und gesehene Bilder - er nennt es «die nackte, nach nichts gierende Reaktion auf das Leben.»
In diesem Sinne, stimmt er zu, trägt ein Foto gleichzeitig die Seele das Objektes wie die Seele des Autors in sich.
Wer ist er, dieser Igor Elukov, was bedeutet für ihn die Fotografie?
In Igor Elukovs Arbeit gibt es eine starke Erzählung. Wie wichtig ist ihm die Geschichte und welche Rolle spielt darin das einzelne Bild?
Erst im dritten Jahr des Fotografierens erkannte er, dass er im Grunde an einer Serie arbeitet. Jahrelang glaubte er, er fotografiere Einzelbilder und erkannte erst im Rückblick das Narrative daran. Für ihn bietet die Fotografie nicht die Vorteile, die die Malerei besitzt: «Ein einziges Bild von Bruegel erzählt eine ganze Geschichte.» Er bevorzuge die Geschichte, sagt er. Aber eben eine Geschichte, in der jedes einzelne Element autark ist und bleibt. Es vergleicht es mit einer Art Renga in der japanischen Poesie oder einem Musik-Zyklus, in dem jeder Teil unabhängig bleibt, gleichzeitig aber in der Verbindung eine neue Bedeutung entsteht, etwas drittes, etwas, das auf logischem Pfad nicht erreichbar wäre.
Wer ist er, dieser Igor Elukov, worin gründet seine Liebe zur Fotografie? Welchen Weg ist er gegangen und wie hat er entscheiden, seinen Ausdruck in der Fotografie zu finden?
Schon in der Kindheit zeigte er Interesse an der bildenden Kunst. Er interessierte sich aber vielmehr für Malerei und Zeichnung, die Fotografie lief eher nebenher. Er besuchte eine Kunsthochschule und wurde Illustrator. Dort gab es auch eine Fakultät für Pressefotografen. Er sagt, er habe aber nicht Fotografie studiert, er habe mithilfe der Fotografie studiert. Eine echte Studie sind seine Reisen, eine freiwillige und freudige Askese, wo er für ein paar Monate nichts lese, nichts anschaue, außer das Leben selbst zu betrachten und zu fotografieren. So wurde die Fotografie zu seiner Methode der Erkenntnis und der Meditation. Ein Mittel das Leben zu sehen «wie es ist».
«Ich bin nicht einer, der träumt»
Was sind seine Pläne für die Zukunft? Was sind seine Träume? Jetzt sagt er den Satz «Ich bin nicht einer, der träumt.» Das einzige, was er will, ist es, sich mit seiner Lieblingssache zu beschäftigen. Sich immer höheren Aufgaben zu stellen und sie zu lösen. Er denkt oft über Film nach. Er möchte die Geschichte des Nordens in einem Buch sehen.
Es hört sich zu abgeklärt an, immerhin ist der Mann noch keine dreißig Jahre alt – hat er denn gar keine törichten oder überschwänglichen Träume?
«Wissen Sie, ich träume von der Geschichte der Stadt. Vielleicht werde ich damit in diesem Jahr beginnen. Aber ich weiß nicht, wie sich meine Bilder durch eine Ortsänderung verändern werden: Ich jedenfalls werde nicht versuchen, mir selbst ähneln zu müssen, noch von mir verlangen, ganz anders zu fotografieren. Es scheint mir, dass jeder Ort seinen eigenen Gehalt birgt, das was die historischen chinesischen Maler mit «Dies ist der Ort» bezeichneten. Dieses Sein, den Geist des Ortes, den «genius loci» gilt es zu entwirren und zu erfassen.»
«Und vorhin sagten Sie, sie hätten keine Träume», rufe ich freudig aus, worauf Igor Elukov antwortet, schlagfertig und vollkommen klar: «Das ist kein Traum, das ist unvermeidlich!»
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