Dies ist die Geschichte des Zuckerbäckersohns Edgar Herbst, der zum visuellen Aufzeichner avanciert. Er notiert seine Wahrnehmungen des Aufwachsens in der Harzer Natur in der späten Nachkriegszeit und irrt auf unbestimmten Pfaden der Provinzen bis in die Metropolen Frankfurt - Hamburg - Berlin. Anerkennung suchend und Aufmerksamkeit erweckend, mit zerfleddertem Smoking und brandlöchrigem Seidenschal, selten ohne Hut, schenkt er sein Auge der gesellschaftlichen Dekadenz, übermütig in der Darstellung seines Gegenüber und seiner selbst. Aus diesem geistigen und materiellen Archiv soll - schonungslos und gleichsam von Selbstironie gezeichnet - ein Buchwerk panoptischer Fülle entstehen.
Text — Edgar Herbst – 15.09.2021
Fotos — Archiv und Edgar Herbst
1966
Die alte Wohnzimmeruhr auf dem Anrichtetisch im ehrwürdigen Salon meiner Großmutter bewegte ihre Zeiger schonungslos auf die heilige Zwölf zu. Der Gong, der den Appell zum Mittagstisch verhieß.
Auf dem schwarzen Eichentisch, von einer blütenweiß und faltenlos gemangelten Tischdecke mit bestickten Blumenmustern überzogen, formierten sich goldrandiges Porzellan, Tafelsilber und Servietten in polierten Ringen. Zart dampfender Rauch aus der Suppenschüssel, gefüllt mit dem nach Hausfrauenart zubereiteten Nachkriegsgericht «Himmel und Erde», der Raum erfüllt lieblich bis bizarr, süss sauer.
Auf einem überdimensionierten Ölgemälde war in herbstlicher Anmutung eine Treibjagdszenerie abgebildet. Gemalt mit lebendig bis gewaltigem Pinselstrich von einem mittellosen Künstler, gegen ein Honorar des lebenslangen freien Alkoholausschanks in der Kneipe meines Vaters. Urplötzlich befreite sich das Werk aus dem verziertem Rahmen und verwandelte die Stube in ein ekstatisch aufgewühltes Areal von hechelnden und kläffenden Kaiserhunden, dresscodierten Reitersmännern auf ihren wildgewordenen schaummündigen Rossen, angetrieben von den Fanfaren aus den Hörnern der Bläser.
Aus einer tranceartigen Ohnmacht erwachend, erblickte ich aus dem Unterholz im nebligen Gegenlicht der Sonne die Konturen der Pferde, die sich ihrer Reiterschaft entledigt hatten und friedlich an dem Wasserquell eines Waldbaches labten.
Durch das Waldgebiet ertönte nun der zwölfte Schlag der Wohnzimmeruhr, wie jener aus dem Glockenturm einer weltlichen Kathedrale, und ließ den noch heißen Inhalt der Suppenschale erzittern.
1997
Die Ausstosslaute der Tribünenschaft der Galopprennbahn schallten stumpf und spitz zugleich aus den glühenden Kehlen der Wettfreudigen. Sie hallten bis zum edelweißen Plastikzelt der Interessenvertretung des Champagnergiganten Moët & Chandon.
Hier wurde feinen und erlesenen Gästen, in der Senke der Mittagssonne, ein noch feinerer und noch erlesenerer Trunk kredenzt. Der hauseigenen Marke wurde ein halber Messbecher eines in die Jahre gekommenen Cognac hinzugeführt, sodass die Gemeinde unweigerlich von Siegerstimmung heimgesucht wurde.
Es roch nach Pferd – es regnete Hüte. Auf dem Zielphoto des zum Anlass jährlich stattfindenen Kopfschmuckwettbewerbes sichtbar auf dem dritten Rang, stand ein südseeparadiesisch anmutendes Früchtearrangement, eine halbe Hutlänge hinter einem LSD-farbenprächtigem Vogelkäfig mit einer schaukelnden Papageienattrappe. Die unangefochtende Nummer Eins jedoch trug eine mondäne Dame auf ihrem Haupt: ein Hutgestell, aus dem ein liebevoll passioniert modellierter übergrosser Hengstpenis in
den Himmel ragte, mit hellgrauem Teint und fleischfarbig, der in seiner Halterung ungeniert wankte.
Eine schneeweiße britische Wolke von Ascot schwebte über der Galopprennbahn Hamburg-Horn.
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