Theorie

Abschied vom fotografischen Universum — ein Essay von Fred Ritchin 

Text — Fred Ritchin für ReVue – Februar 2022

Übersetzung — Matthias Steinke

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Hier sehen Sie eine Person, die nicht existiert: Ein synthetisches Bild, das ein Foto simuliert, erstellt von einem «GAN (generated adversarial network) StyleGAN2» auf der Website thispersondoesnotexist.com am 19. Februar 2022. 

Die Digitalisierung hat in der Fotografie zu einem Paradigmenwechsel geführt, bei dem die wesentliche Funktion der Fotografie, nämlich Zeugin der Wirklichkeit zu sein, erheblich beeinträchtigt wurde. Unter anderem durch die zunehmende Verbreitung synthetischer Bilder, die glaubhaft Menschen und Orte darstellen, die nie existiert haben. Dieser Essay wurde zwar vor der russischen Invasion in der Ukraine geschrieben, aber die vielen Bilder, die jetzt im Umlauf sind und die fälschlicherweise vorgeben, die Geschehnisse in diesem schrecklichen Krieg zu dokumentieren, die aber in Wirklichkeit dekontextualisiert, modifiziert oder synthetisch sind, zeugen von den wachsenden Herausforderungen, die sich dem objektivbasierten Medium als Vermittler des Weltgeschehens stellt. Wir befinden uns in einer neuen Ära.

Im Grunde wird der Einzelne dazu ermutigt, sich die Welt neu zu gestalten, um sie anders erscheinen zu lassen, während er im Endeffekt machtlos bleibt und dazu verdammt ist, sich in seiner eigenen Kosmologie als eine kleine Gottheit zu fühlen

Kürzlich, an einem winterlichen Tag im New Yorker Metropolitan Museum of Art, betrat ich, umgeben von einer großen Anzahl maskierter Menschen, eine Galerie mit englischen Gemälden aus dem 18. Jahrhundert. Ich begegnete dort zwei jungen Frauen, die abwechselnd vor einzelnen Gemälden posierten und die Gesten der Dargestellten imitierten. Ihre Mäntel hatten sie auf einer Bank in der Nähe abgelegt. 
 
Während sie sich durch den Raum bewegten und gegenseitig fotografierten, flüsterten sie sich Anweisungen zu, wo sie sich am besten aufstellen sollten. Im Gegensatz zu uns anderen, die wir durch die Räume stapften, um so viel Kunst wie möglich zu sehen, schienen sich die beiden damit zu begnügen, ihr raffiniertes Ballett mit der Handykamera in der Hand aufzuführen.
 
Wie Lewis Carrolls Figur Alice hatten sie einen Spiegel gefunden, der sich in eine jenseitige Welt öffnete und sie dort mit der Aura der berühmten Gemälde verband. Und zugleich waren sie in eine weitere Bilderwelt eingetreten, die der sozialen Medien, in der sie ihre Eindrücke feiern und mit anderen teilen konnten, ein Paralleluniversum, in dem sich die Bilder zweier Jahrhunderte miteinander verwoben.
 
Sie hatten eine virtuelle Welt nach eigener Vorstellung geschaffen, in der Zeit und Raum miteinander verschmolzen, in der die Erscheinungen miteinander in Schwingung geraten, in der Handlungen jedoch keine konkreten Folgen haben und das Unvergängliche angenommen werden kann. Obwohl von einer Kamera festgehalten, dienten ihre Fotografien nicht dazu, das Sichtbare abzubilden und die Wirklichkeit zu hinterfragen, so wie Fotografie herkömmlich eingesetzt wird, sondern vielmehr dazu, die entstandenen Bilder form- und wandelbar zu machen. Sie benutzten ihre Kameras als Mittel zur Emigration.

Diese Treue zum Sichtbaren, so unvollständig sie auch sein mag, wurde durch das Aufkommen des Digitalen zutiefst erschüttert

Früher war die dialektische Beziehung zwischen Fotograf, Kamera und dem Sichtbaren von zentraler Bedeutung für das Medium und wesentlich für dessen Interpretation. Während der Fotograf den Blickwinkel und den Moment des Auslösens wählte, dienten Kamera und Objektiv als Ballast und Kontrapunkt.

Betrachter konnten das Foto zwar auf unterschiedliche Weise deuten, sich zugleich aber sicher sein, dass es sich um eine Abbildung des Sichtbaren handele, die eine etwaige Absicht des Fotografen überlagert oder unterläuft. Diese wechselseitige Abhängigkeit von der Kamera und der Subjektivität des Fotografen werden in Henri Cartier-Bressons Vorwort zu seinem einflussreichen Buch «The Decisive Moment« von 1952 erwähnt: «Diese von einer umherschweifenden Kamera zufällig aufgenommenen Fotografien versuchen keineswegs, ein allgemeingültiges Bild von den Ländern zu zeigen, in denen diese Kamera unterwegs war«.

Fast ein Jahrhundert früher, im Jahr 1859, hatte der Dichter und Kritiker Charles Baudelaire die Fotografie kurz nach ihrer Erfindung verunglimpft, indem er sie als bloßes Aufzeichnungsmedium bezeichnete. Er schlug vor, dass sie «zum Sekretär und Protokollant eines jeden wird, der in seinem Beruf auf absolute äußere Genauigkeit angewiesen ist ... Aber wenn es ihr erlaubt wird, sich auf die Domäne des Geistes und der Phantasie auszuweiten, auf all das was nur durch die Seele des Menschen lebt, dann wehe uns!»

Was Baudelaire jedoch unterschätzte, war die stenografische Bedeutung der Fotografie für die Gesellschaft als glaubhaftes Zeugnis, das sich gerade in jener «äußeren Genauigkeit» findet, die er als limitierend empfand. Die alte Binsenweisheit: «die Kamera lügt nicht», bezieht sich bezeichnenderweise weder auf den Fotografen noch auf den Pinsel oder den Bleistift.

Aber diese Treue zum Sichtbaren, so unvollständig sie auch sein mag, wurde durch das Aufkommen des Digitalen zutiefst erschüttert. Die analoge Fotografie, die sich durch kontinuierliche Verläufe anstelle diskreter Pixel auszeichnet, erlaubt kaum Modifikationen, die über die Veränderung des Kontrasts oder das Zuschneiden des Bildes hinausgehen.

Die manuelle Retusche ist ein anspruchsvolles, aufwändiges und für die meisten zu teures Verfahren, bei dem die Änderungen zudem oft relativ leicht zu erkennen sind. Die Struktur der analogen Fotografie lud nicht zu einer umfassenden Neuerfindung ein, und ihre Stärke lag darin, dass sie folglich weitgehend in Ruhe gelassen wurde.

«Eine Fotografie ist nicht nur ein Bild (so wie ein Gemälde ein Bild ist), eine Interpretation des Wirklichen, sondern zugleich eine Spur, etwas, wie eine Schablone des Wirklichen, wie ein Fußabdruck oder eine Totenmaske», schrieb Susan Sontag in den 1970er Jahren.

«Wenn «das Medium die Botschaft ist», wie es Marshall McLuhan in den 1960er Jahren formulierte, dann ist die Botschaft der Fotografie die Formbarkeit dessen, was als real gilt, und nicht ihre Fähigkeit zur Aufzeichnung und Betrachtung.»

Der digitale Code eines maschinell erstellten Bildes kann von anderen Maschinen gelesen werden, so wie bei der Videoüberwachung. Das Paradigma hat sich grundlegend verändert

Heute können die Millionen von Pixeln, aus denen ein Foto besteht, leicht und kaum erkennbar von Software modifiziert werden, die das Foto in ein Mosaik verwandelt, das nach Belieben neu gemischt werden kann.

Die Umwandlung der Fotografie in ein synthetisches Medium – ähnlich der Malerei – hat ihre Veränderbarkeit in den Vordergrund gestellt und die ursprüngliche Bedeutung von Wirklichkeitsabbildung vermindert. Der Spruch «Die Kamera lügt nicht», findet heute wenig Resonanz.

Fotos, die als Abbild eine Szene ohne wesentliche Änderungen darstellen, müssen möglicherweise durch eine spezielle Kennzeichnung von der Masse ähnlicher Bilder unterschieden werden, die manipuliert oder von Algorithmen, also ohne Einsatz einer Kamera, erstellt wurden.

Ein hoher Prozentsatz konventioneller Fotografien wird heute nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen gemacht, so dass der digitale Code des Bildes von anderen Maschinen gelesen werden kann, wie dies etwa bei der Videoüberwachung geschieht. Das Paradigma hat sich grundlegend verändert.

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Von künstlicher Intelligenz erzeugte Bilder kommen Fotografien teilweise sehr nahe und zu unerwarteten Ergebnissen führen. Fred Ritchin verwendete einen Text-Bild-Generator, bei dem man einen Satz eingeben kann und die Software innerhalb von zwei Minuten ein Bild erzeugt. Oben: «Die perfekte Familie», «Kinder mit Luftballons», Unten: «Menschen in einem Konzentrationslager», «Rassistische Menschen».

Es gibt Algorithmen, die jegliche tatsächliche Beobachtung überflüssig machen, indem sie fotorealistische Bilder von Menschen und Situationen erzeugen, die nie existiert haben

Wenn «das Medium die Botschaft ist», wie es Marshall McLuhan in den 1960er Jahren formulierte, dann ist die Botschaft der Fotografie die Formbarkeit dessen, was als real gilt, und nicht ihre Fähigkeit zur Aufzeichnung und Betrachtung. (Aus Sorge vor dieser Eventualität habe ich ein 1990 veröffentlichtes Buch «In Our Own Image: The Coming Revolution in Photography» betitelt.)

Diese Tendenz ist die Apotheose des Konsumerismus, bei dem der Konsument (oder der Prosument, der gleichermaßen Bilder produziert, wie konsumiert) das bekommt, was er oder sie begehrt, oder genauer gesagt, was ihm oder ihr eingeredet wird zu begehren. Zwar sind die zum Genuss angebotenen Produkte oft minderwertig, gar schädlich für das Wohlbefinden, doch wird dies durch die Art und Weise ihrer Darstellung weitgehend irrelevant – die makellos aussehende, aber geschmacklose Tomate wird der faltigen, schmackhafteren und nahrhafteren vorgezogen.

Im Grunde wird der Einzelne dazu ermutigt, sich die Welt neu zu gestalten, um sie anders erscheinen zu lassen, während er im Endeffekt machtlos bleibt und dazu verdammt ist, sich in seiner eigenen Kosmologie als eine kleine Gottheit zu fühlen.

«Eine kapitalistische Gesellschaft braucht eine Kultur, die auf Bildern basiert. Sie muss unentwegt Unterhaltung bieten, um zum Kauf anzuregen und den Schmerz der Wunden zu betäuben, die durch Klassen-, Rassen- und Genderprobleme gerissen werden», schrieb Susan Sontag vor fast einem halben Jahrhundert in «On Photography (Über Fotografie)».

Sie schloss einen Gedanken daran an, der sich heute noch aktueller liest: «An die Stelle des gesellschaftlichen Wandels tritt ein Wandel der Bilder. Die Freiheit, eine Vielfalt von Bildern und Gütern zu konsumieren, wird gleichgesetzt mit der Freiheit schlechthin. Die Einengung der politischen Entscheidungsfreiheit auf die Freiheit des wirtschaftlichen Konsums erfordert ein unbegrenztes Produzieren und Konsumieren von Bildern.»

Der «Wandel der Bilder», den sie beschreibt, ist über jeglichen Realitätsbezug hinaus metastasiert. Während die Größe digitaler Bilddateien komprimiert wird, extrapoliert Software nun standardmäßig eine höhere Auflösung, um bestimmte Effekte zu erzielen. Es handelt sich also nicht mehr um Abbildungen des Sichtbaren, sondern um Renderings, die sich so darstellen, wie die Software eine Szene aussehen lassen will.

Schlimmer noch: Es gibt inzwischen digitale Filter, die jemanden dünner oder attraktiver erscheinen lassen oder eine Szene derart verändern, dass sie retro erscheint, als wäre sie vor Jahrzehnten fotografiert worden, oder umgekehrt werden historische Bilder ins Jetzt transformiert. Und es gibt Algorithmen, die jegliche tatsächliche Beobachtung überflüssig machen, indem sie fotorealistische Bilder von Menschen und Situationen erzeugen, die nie existiert haben.

Solche synthetischen Bilder infiltrieren zunehmend die Medienwelt und werden in den unterschiedlichsten Kontexten genutzt. So wird es etwa möglich sein, eine Arbeitsumgebung diverser erscheinen zu lassen als sie ist oder den eigenen Bekanntenkreis spannender darzustellen.

Das Vorhandensein solcher Bilder, die schnell und zahlreich produziert werden können, wird allmählich die Glaubwürdigkeit mit dem Objektiv aufgenommener Fotos und Videos in Frage stellen – ein destabilisierender Effekt, der als «Lügendividende» bezeichnet wird und bei dem echte Aufnahmen leichter als Fälschungen abgetan werden können.

Folglich kann alles was als unbequem oder beunruhigend empfunden wird oder dem Individuum und Bürger eine Reaktion abfordert, wie etwa eine Naturkatastrophe oder ein Massaker, schlicht als Fake deklariert werden. Dieselbe «Skepsis» lässt sich schließlich auch auf historische Aufnahmen anwenden.

Zweifellos werden es vor allem die Autokraten und Extremisten jeder Couleur sein, die am meisten von dem Niedergang glaubwürdiger Medien profitieren

Rannte zum Beispiel die neunjährige Kim Phúc 1972 wirklich die Straße hinunter, während ihre Haut von Napalm verbrannt wurde, wie es auf dem berühmten Foto von Nick Ut aus dem Vietnamkrieg zu sehen war, ein Bild, das seinerzeit viele gegen den Konflikt aufbrachte?

Wurde George Floyd im Jahr 2020 in Minneapolis wirklich von dem Polizisten Derek Chauvin brutal erstickt, mit Chauvins Knie an seinem Hals, während andere Beamte nur zusahen, oder war dies bloß ein Hirngespinst?

Einmal mehr kann man sich die Welt als eine Scheibe vorstellen.

Schon jetzt werden die verbleibenden mit dem Objektiv fotografierten Bilder, die den synthetischen Bildern ähneln, dazu benutzt, Staatsoberhäuptern gefälschte Reden unterzuschieben oder Prominente (übrigens fast ausschließlich Frauen) in pornografischen Filmen zu platzieren.

Da im Internet unzählige Bilder zur Verfügung stehen, können diese Simulationen von jedem angefertigt werden, auch von Klassenkameraden oder Kollegen, Fremden oder Kindern. Der Schaden für die Reputation und das Selbstwertgefühl von Menschen wird gravierend sein, wie der Trend zur Publikation von „Revenge Porn“ gegen frühere Partner schon heute zeigt.

Darüber hinaus können fingierte Bilder als Instrument eingesetzt werden, um etwa Rassismus oder Frauenfeindlichkeit zu fördern, Gemeinschaften zu spalten, gewaltsame Konflikte zu provozieren oder demokratische Prozesse zu untergraben. Es gibt zwar Forscher, die daran arbeiten, solche synthetischen Bilder schnell zu identifizieren, aber es ist unwahrscheinlich, dass technische Verfahren, die aktuelle Gesetzgebung oder Crash-Kurse in Medienkompetenz allein ausreichen werden, um den Herausforderungen zu begegnen, die mit der zunehmenden Verbreitung dieser Bilder entstehen.

Zweifellos werden es vor allem die Autokraten und Extremisten jeder Couleur sein, die am meisten von dem Niedergang glaubwürdiger Medien profitieren, da eine desorientierte Öffentlichkeit nur geringen Widerstand leisten wird.

Am meisten werden diejenigen betroffen sein, die auf Hilfe von außen angewiesen sind, die unter Hungersnöten, Konflikten, Epidemien, Umwelt- und anderen Katastrophen leiden. Aber wir werden alle in Mitleidenschaft gezogen, da die zunehmende Abkopplung von Themen und Ereignissen Angst und Passivität begünstigt und es zunehmend schwerer macht zu verstehen, was tatsächlich vor sich geht.

Die andauernden Attacken auf angebliche «Fake News» sind ein hässlicher Aspekt dieses Wandels.

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Künstlich erstelltes Bild von einem "Fake-Blogger", der gegen die Ukraine hetzt.  Screenbild vom 28. Februar 2022,  6:29 PM auf Twitter

Die virtuelle Welt wird höchstwahrscheinlich von immer mehr synthetischen Wesen bevölkert werden – einige werden als Avatare geschaffen, die so aussehen wie die Personen, die sie repräsentieren, während andere anders aussehen und handeln werden.

Künftig wird sich die virtuelle Welt weiter ausdehnen, um den Mangel an Handlungsspielräumen in der physischen Welt auszugleichen. Höchstwahrscheinlich wird sie auch von immer mehr synthetischen Wesen bevölkert werden – einige werden als Avatare geschaffen, die so aussehen wie die Personen, die sie repräsentieren, während andere anders aussehen und handeln, was die sozialen Beziehungen online noch ungewisser macht.

Menschen können anderen nicht mehr vertrauen und werden sich immer mehr nach innen oder den eigenen Clans zuwenden, denn paradoxerweise fühlen sie sich in der globalen Online-Kommunikationsinfrastruktur nur noch isolierter und einsamer.

Stellen Sie sich etwa ein Zoom-Meeting vor, bei dem viele der Rechtecke bloß noch von Avataren bevölkert sind, die dort die Ziele derjenigen erreichen sollen, die sie vertreten – oder womöglich die Ziele der Software selbst. Eine Website bietet Nutzern bereits an, «Computer-generierte Fotos zu erwerben, die an Ihre Hautfarbe, Ihr Alter, Ihr Geschlecht, Ihre Haarlänge usw. erinnern», und dies als Möglichkeit zu nutzen, «anderen eine Vorstellung von Ihrem Aussehen zu geben und zugleich Ihre wahre Identität zu schützen».

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Stellen Sie sich ein Zoom-Meeting vor, bei dem in diesem Fall alle Rechtecke mit synthetischen Bildern gefüllt sind, die Fotos simulieren, die dann als Avatare fungieren können. Diese Bilder wurden von einem «GAN (Generated Adversarial Network) StyleGAN2» auf der Website thispersondoesnotexist.com am 19. Februar 2022 erzeugt

Menschen mit religiösen oder anderen Skrupeln könnten Software einsetzen, die darauf trainiert ist, etwa ein Plakat mit einer halbnackten Frau im Bikini, die für einen Inselurlaub wirbt, in das Bild einer Palme zu verwandeln

Solche synthetischen Bilder, die oft fälschlicherweise als Fotografien bezeichnet werden, werden auch Filme und Videospiele dahingehend verändern, dass man Bilder von Charakteren mit anderen ersetzen kann, einschließlich Bildern von Menschen, die man kennt.

Dies wird sich jedoch nicht nur auf das Anstarren von Bildschirmen beschränken: So können sich manche Menschen dafür entscheiden oder dazu gezwungen werden, auf der Straße Kontaktlinsen oder Brillen zu tragen, die so programmiert sind, dass sie alternative Bilder einsetzen, um bestimmte Aspekte der Umgebung zu verbergen.

Ein Obdachloser, der auf dem Bürgersteig sitzt, könnte durch das Bild eines Hydranten ersetzt werden oder Menschen einer bestimmten Rasse werden mit einer anderen ausgetauscht. Menschen mit religiösen oder anderen Skrupeln könnten Software einsetzen, die darauf trainiert ist, etwa ein Plakat mit einer halbnackten Frau im Bikini, die für einen Inselurlaub wirbt, in das Bild einer Palme zu verwandeln.

Steve Mann, ein selbsternannter Cyborg, hat dies eine Strategie «eingeschränkter Realität» genannt. Man könnte aber noch weiter gehen und diese Entwicklung als die Materialisierung eines Paralleluniversums nach ideologischen Präferenzen bezeichnen.
 
Die Veröffentlichung des neuesten Buches des Magnum-Fotografen Jonas Bendiksen, The Book of Veles, das angeblich eine Dokumentation über eine Stadt in Nordmazedonien ist, die als Drehscheibe für die Verbreitung von Fehlinformationen bekannt ist, sollte eine Diskussion über die Rolle synthetischer Bilder und die dahinter stehende künstliche Intelligenz auslösen.

Das Buch scheint eine herkömmliche Fotoreportage zu sein, aber alle Bilder von Menschen, obwohl nicht als solche gekennzeichnet, wurden von einer Software erstellt, die Bendiksen zu diesem Zweck trainiert hat; der 5.000 Wörter umfassende Text, der die Bilder begleitet, wurde ebenfalls von künstlicher Intelligenz produziert.

Es ist bezeichnend, dass niemand die Täuschung durchschaute, nicht einmal seine versierten Kollegen, und Monate später sah sich der Fotograf schließlich gezwungen zu gestehen, ein Eingeständnis, für das er dann von denselben kritisiert wurde, die sein Projekt als Verrat ansahen.
 
Unlängst hat sich Smarterpix, eine deutsche Bildagentur, die von PantherMedia geführt wird, mit dem Technologieunternehmen VAIsual zusammengetan, um die erste Serie lizenzierbarer Bilder anzubieten, die aus fotorealistischen Porträts von Menschen bestehen, die gar nicht existieren.

Wie auf der Fotografie-Website PetaPixel berichtet wird, können diese Bilder «mit einem Greenscreen-Hintergrund generiert werden, so dass sie leicht mit anderen synthetischen Elementen oder realen Fotohintergründen kombiniert oder in diese eingefügt werden können, um völlig neue Inhalte zu schaffen». Michael Osterrieder, CEO von VAIsual, sieht in den synthetischen Bildern «die Zukunft der Stockfotoindustrie» und schätzt, «dass innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre 95 % aller Bilder KI-generiert sein werden».

Wie der Journalist Jaron Schneider berichtet, führt PantherMedia das Argument ins Feld, dass diese Bilder «die nächste Generation 'reibungsloser Inhalte‘ darstellen, da sie «keine Freigabe durch die Models erfordern und in jedem Kontext verwendet werden können. Diejenigen, die die Bilder herunterladen, müssen weder Nutzungsbedingungen überprüfen, noch teure Rechtsstreitigkeiten fürchten.»
 
In ähnlichem Tenor hatte Mark Milstein, CEO von Microstock Solutions, im letzten Jahr vorgeschlagen, dass Digital Asset Management (DAMs) «ein Angebot synthetischer Medien bedeutet, die es Anwendern ermöglicht, endlos einzigartige, maßgeschneiderte Fotos zu generieren, mit geringen oder gar keinen Lizenzgebühren, keinen rechtlichen Einschränkungen und ohne die Sorge, dass Konkurrenten eventuell das gleiche Bild benutzen … Synthetische Medien, also Fotos, die von potenten Algorithmen generiert werden, sind das Herz und die Seele der DAMs von morgen. Die Suche nach Inhalten auf einer Stock-Media-Website wird der Vergangenheit angehören.»
 
Nochmal innovativer und erhellender als diese Simulationen sind die von künstlicher Intelligenz erzeugten Bilder, die zwar an Fotografien erinnern, aber ganz andere Arten von Wahrnehmungen vermitteln. Ein von mir verwendeter Wort-Bild-Generator erlaubt es zum Beispiel, einen Satz einzutippen, worauf die Software innerhalb weniger Minuten ein Bild erzeugt.

Ein innovatives KI-Projekt von Alexey Yurenev erforscht die weitgehenden unbekannten Heldentaten seines eher unkommunikativen Großvaters im Zweiten Weltkrieg, als dieser Soldat in der russischen Armee war. «Silent Hero» erzeugt eine Vielzahl von Bildern, die auf unheimliche Art eindringlich und seltsam zweideutig sind, wie die Bilder aus Träumen und Albträumen.

Diese Bilder beunruhigen auf eine Weise, wie es Fotografien nicht können. Es ist, als ob das Unbewusste und Unterschwellige, die ephemeren psychologischen Landschaften nun konkret werden, wie sie zuvor nur für denjenigen waren, der sie erlebte.

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Synthetische Bilder des russischen Militärs im Zweiten Weltkrieg von Alexey Yurenev für sein Projekt «Silent Hero», das in Zusammenarbeit mit einem neuronalen Netzwerk von Style Gan2 erstellt wurde, das auf einer Bilddatenbank des Zweiten Weltkriegs trainiert wurde. Oben: «Soldat», «Nachwirkungen der Schlacht». Unten: «Schlachtszene», «Soldat».

Kann das glaubwürdige Zeugnis des Kameraauges auch in Zukunft noch Bestand haben? Und wenn nicht, womit werden wir es ersetzen?

Mit dem erwähnten Text-Bild-Generator kann man z. B. schreiben: «Ein unheimlicher Mann ist mir in einer dunklen Straße gefolgt», und die Software erzeugt daraus ein Bild, das eine menschenähnliche Figur zeigt, die aber nicht einem Foto des «Realen» ähnelt, sondern etwas Beängstigendes, als ob es aus den Abgründen des Unbewussten von jemandem käme.

Zweifellos werden diese Art Bilder bald verschwinden, wenn nämlich die künstliche Intelligenz in der Lage ist, Fotos mit größerer Präzision zu simulieren. Dann bräuchte man vielleicht «Traum»- und «Albtraum»-Tasten sowie einen «Gedächtnis»-Schalter, der die Software dazu veranlasst, weitere Ausflüge in das kaum Vorstellbare zu machen.
 
Ebenso zweifellos werden diese Bilder unser Verständnis von unserer eigenen Psyche und unsere Beziehung zur eigenen Psyche wie auch zu anderen Bereichen verändern. Letztendlich könnten die Auswirkungen synthetischer Bilder noch tiefgreifender sein als die Bewusstseinsveränderungen, die einst durch die Fotografie ausgelöst wurden.

Diese hatte das Sehen gegenüber den anderen Sinnen in den Vordergrund gestellt, den Raum komprimiert, den Bruchteil einer Sekunde hervorgehoben und zugleich vermeintlich die Zeit angehalten, das weit Entfernte wie das äußerst Kleine sichtbar gemacht, die Gegenwart als Vergangenheit konkretisiert und das menschliche Gedächtnis abgelöst.
 
All diese paradigmatischen Veränderungen legen die dringende Frage nahe, welche Rolle die Fotografie künftig spielen soll, aber auch die nach der Rolle synthetischer Bildwelten. Kann das glaubwürdige Zeugnis des Kameraauges auch in Zukunft noch Bestand haben? Und wenn nicht, womit werden wir es ersetzen? Gibt es umfassendere und ausgewogenere Möglichkeiten, sowohl objektivbasierte als auch synthetische Bilder zu verwenden?
 
Diejenigen, die auch in Zukunft fotografieren möchten, werden anders an das Medium herangehen müssen, wenn es um Themen wie Authentizität und Glaubwürdigkeit geht. Sie werden darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Bilder besser kontextualisieren und zugleich ihre Praxis transparenter gestalten, wie sie andere Medien wie Video und Ton synergetisch mit der Fotografie verbinden und gleichzeitig narrative Strategien entwickeln, die ihr Publikum einbeziehen, und wie sie enger mit denjenigen zusammenarbeiten können, die sie abbilden, um diese mit größerer Genauigkeit darzustellen.

Jeder Fotograf muss sich stärker seiner Rolle als Autor bewusst werden, der nicht nur für seine Bilder verantwortlich ist, sondern auch dafür, wie diese präsentiert und verstanden werden.
 
Abschließend: Sollten wir endlich, da wir das uns bekannte fotografische Universum verlassen, anfangen darüber zu diskutieren, wie wir in eine Welt übergehen können, die weniger von ihrer Darstellung in Bildern abhängig ist?

  

Lesen Sie hier die englische Originalfassung des Textes

Lesen Sie einen weiteren Artikel des Autors «Die Katze, das Foto und das Dazwischen — Ein Essay über den nützlichen und zerstörerischen Gebrauch von Bildern ».

Fred Ritchin
Prof. em. Fred Ritchin ist Schriftsteller, Lehrer, Herausgeber und Kurator. Er hat drei Bücher über die Zukunft der Bildgebung geschrieben: In Our Own Image (1990), After Photography (2008) und Bending the Frame (2013). Er schuf die erste Multimedia-Version der New York Times (1994-95) und konzipierte und redigierte auch den ersten nicht-linearen dokumentarischen Fotoessay für die Times online, "Bosnia: Uncertain Paths to Peace (1996)", der für einen Pulitzer-Preis nominiert wurde. 
Er ist emeritierter Dekan des International Center of Photography und unterrichtet derzeit an verschiedenen Orten, wobei er sich auf Bildstrategien für Menschenrechte konzentriert. Seine Website mit Schriften, Vorträgen und anderen Ressourcen, TheFifthCorner.org, ging Ende letzten Jahres online.
Matthias Steinke

Matthias Steinke hat diesen Text übersetzt. Er bewegt sich mit Vorliebe zwischen Jazz, Neurowissenschaften und postmoderner Literatur. Er lebt und arbeitet als Organisationsberater in Berlin. Steinke besitzt langjährige Führungserfahrung in globalen Unternehmen der IT und Telekommunikation und hat unter anderem zehn Jahre in England gelebt. Bei ReVue ist er verantwortlich für die Rubrik «Im Kopf».

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