Im Kopf

Eintauchen ins Bild  — Demenz und Fotografie

Fragen  — Zora del Buono — 06.03.2022

Antworten — Torsten Kratz

Fotos — Edgar Herbst, Zora del Buono und Archive

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Das Leben eines Demenzerkrankten gleicht oft einem chaotischen Desaster. Das Leben bröckelt auseinander und es fällt den Betroffenen immer schwerer, die Erinnerungen zusammenzuhalten. Foto: Edgar Herbst

Fotografien begleiten uns unser gesamtes Leben. Die Sicht auf unsere Welt wird wesentlich durch sie geprägt

Besonderen Einfluss haben Fotografien auf unsere emotionale Gefühlswelt, unsere Stimmungen und Sehnsüchte. Im Laufe des Alterns, insbesondere bei Auftreten einer Demenzerkrankung, kommt es zu einem Abbau geistiger Fähigkeiten. Im Gegensatz dazu verbessert sich bei Demenzkranken die Emotionalität deutlich. Deshalb können Demenzerkrankte in besonderer Weise durch Fotografien emotional angeregt werden, die zu einem wichtigen Bestandteil der Kommunikation werden können. Der Gerontopsychiater und Demenzspezialist Prof. Dr. Torsten Kratz spricht mit der Autorin Zora del Buono, die im familiären Umfeld von Demenz betroffen ist. Es ist ein Gespräch unter Freunden.

Zora del Buono: Bevor wir über Fotografie sprechen: Was ist eigentlich eine Demenzerkrankung?

Torsten Kratz: Unter einer Demenz verstehen wir Erkrankungen mit fortschreitendem Abbau des Gehirns. Neben der Einschränkung des Gedächtnisses kommt es zum Verlust erworbener intellektueller Fähigkeiten und zu einer Wesensänderung. Der Begriff Demenz ist ein Überbegriff, unter dem zahlreiche Demenzerkrankungen subsumiert werden. Die am häufigsten vorkommende Form ist die Alzheimerkrankheit. Gefolgt wird sie von der aufgrund von Durchblutungsstörungen des Gehirns entstandenen Gefäßdemenz, der vaskulären Demenz.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Demenz zu erkranken?

Das Risiko steigt mit dem Lebensalter. Sind bei den über 70-Jährigen nur 5 Prozent der Bevölkerung von einer Demenzerkrankung betroffen, leiden bereits 10 bis 20 Prozent der über 80-Jährigen daran. Bei den über 90-Jährigen betrifft die Demenzerkrankung fast jeden Dritten. Derzeit leben in Deutschland rund 1,5 Millionen Demenzerkrankte. Geschlechterspezifisch ist bekannt, dass Frauen häufiger an der Alzheimerkrankheit und Männer häufiger an der Gefäßdemenz leiden.

Meine Großeltern nannten das alles einfach Arteriosklerose, jemand war «sklerotisch», aber das nur nebenbei gesagt. Die Erkrankung Demenz unterscheidet sich also von normalem Altern?
 
Auch bei normalem Altern kann Vergesslichkeit auftreten. Sie ist jedoch sporadisch und bezieht sich auf konkrete Details und das Wiedererkennen ist häufig. Bei einer Demenzerkrankung werden ganze Ereignisse vergessen und das Wiedererkennen ist sehr selten. Demenzerkrankte zeigen Störungen auf verschiedenen Ebenen.

Zunächst liegt eine Störung der geistigen Leistungsfähigkeit vor, also Gedächtnis, Lernfähigkeit, Orientierung, Sprache, Auffassung und Urteilsvermögen. Die zweite Ebene betrifft nicht-kognitive Störungen, also Verhaltensauffälligkeiten. Dazu gehören Depressivität, Teilnahmslosigkeit und Schlafstörungen, seltener treten Wahnvorstellungen, Enthemmung oder Erregung auf. Gelegentlich kommt es zu Aggressivität.

Die dritte Ebene ist die Alltagskompetenz. Demenzerkrankte entwickeln zunehmend Störungen von Wortfindung, motorischer Koordination und Gesichtererkennung, das nennt man Agnosie.

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Agnosie nennt sich die Störung der Gesichtserkennung. Das Alltagsleben gestaltet sich immer schwieriger, wenn auch Nahestehende nicht mehr erkannt werden, Man kann aber mit emotionaler Erkennung arbeiten, so dass Betroffene einen wiedererkennen. Foto: Edgar Herbst

Gesunden fällt es leicht, Gesichter zu unterscheiden. Für Demenzkranke besteht ein Gesicht aber oft nur aus Nase, Augen, Mund

Meine Mutter als von Agnosie Betroffene sieht also ein Gesicht, das quasi aus Augen, Mund und Nase besteht, kann es aber nicht mehr einzelnen Menschen zuordnen, auch nicht solchen, die sie schon lange kennt?
 
Im Prinzip ist dies tatsächlich so. Die Wahrnehmung von Gesichtern ist jedoch komplexer und dies kann man für den Umgang mit Betroffenen nutzen.

Für die Erkennung spielt nämlich die emotionale Erinnerung und Bewertung eine Rolle. So kann man als Demenzkranker zwar an einer Störung der Gesichtererkennung leiden, das Gesicht aber trotzdem wahrnehmen, da man mit bestimmter Mimik und Gestik, mit einem Geruch oder der Stimme der Person vertraut ist.

Deswegen ist es wichtig, auf andere Wahrnehmungsmöglichkeiten von Agnosie-Betroffenen als die rein visuelle zu setzen. Das kann eine vertraute Berührung, eine bekannte Stimmlage oder ein ansteckendes Lächeln sein. Gerade die Störung der Gesichtererkennung kann zu Einschränkung bei der Bewältigung des Alltags bis hin zur Pflegebedürftigkeit führen.

Hier kann der Einsatz von Fotografie eine hilfreiche Rolle in der Therapie spielen.

Wie?

Da eine Heilung der Demenzen bisher nicht möglich ist und medikamentöse Behandlungsverfahren nur zu leichter Verzögerung des Krankheitsverlaufes führen, spielen nicht-medikamentöse Therapieverfahren eine bedeutende Rolle. In der Reminiszenztherapie genannten Erinnerungstherapie werden Fotografien eingesetzt.

Im Rahmen einer gruppentherapeutischen Intervention schauen Demenzerkrankte Bilder an. Da Betroffene ihre geistige Leistungsfähigkeit zunehmend verlieren, im Gegenzug dazu aber an Emotionalität gewinnen, geht es nicht um das eigentliche Erinnern oder Erkennen von Personen oder Daten auf den Bildern, sondern um emotionale Stimmungen.

Fotografien können, wenn man in der Lage ist, tief in sie einzutauchen, vertraute Erlebnisse und Erinnerungen wachrufen. Gerade Demenzerkrankten gelingt dies im Vergleich zu gesunden Menschen deutlich besser.

Emotionalität gewinnen? Ist das eine Emotionalität, die immer schon da, aber versteckt war, weil die Gegebenheiten des Lebens sie nicht zuließen, oder wird sie tatsächlich neu erworben?

Eine spannende Frage. Leider liegen hierzu kaum wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse vor. Aus der persönlichen Erfahrung von 25 Jahren Gerontopsychiatrie glaube ich jedoch verstanden zu haben, dass die Emotionalität, die wir nun bei Demenzkranken nutzen, immer vorhanden war, aber nur rudimentär genutzt wurde.

In unserem täglichen Leben sind wir es gewohnt, kognitiv zu kommunizieren. Das bedeutet, dass unsere Kommunikation geprägt ist von Sprache, deren Bedeutung und deren Hintergrund. In unserer Sozialisierung, zumindest in den Ländern der westlichen Welt, benötigen wir die Emotionalität, die möglicherweise immer in uns geschlummert hat, nicht in so ausgeprägtem Maß, dennoch ist sie vorhanden.

Wenn die kognitiven Fähigkeiten sinken, kompensieren Demenzkrankte dies durch erhöhte Emotionalität. Ohne sozialromantisch wirken zu wollen, hat dies für die Erkrankten Vorteile. Sie sind für Emotionen viel offener als Gesunde, wenn es vorab gelingt, die individuelle Ebene der emotionalen Kommunikation zu öffnen.

Dies setzt aber voraus, dass die konkreten Lebenserfahrungen des Betroffenen berücksichtigt werden. Wir nennen dies «Biografiearbeit».

Und was ist mit «tief in Fotografien eintauchen» gemeint?

Bestimmte Menschen haben eine erhöhte Suggestibilität für Abbildungen oder Filme, sie können sich besser in Bildern wiederfinden. Dies hat nichts mit geistiger Leistungsfähigkeit zu tun, so wie wir sie kennen, sondern lediglich mit der Fähigkeit, sich in Dinge hineinzufühlen oder hineinzuleben.

Das beobachtet man in der Entwicklung eines Menschen besonders im Kindesalter. Kinder, die eine Fotografie betrachten, können so in das Bild eintauchen, dass sie das Gefühl haben, selbst dabei zu sein. Wir Erwachsene verlernen dies mit der Zeit, da wir «kopflastig werden». Wenn wir aber Teile unseres Gehirns verlieren, kommen wir wieder in eine Situation, in der wir hypersuggestibel sein können und damit besser in der Lage, in Fotografien oder Filme einzutauchen.

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Sils Maria im Engadin mit Blick Richtung Maloja. Landschaften, in denen man intensive Tage oder Wochen verbracht hat, können sich tief im Gedächnis verankern. Zeigt man demenziell Erkrankten Fotografien von «ihren» Landschaften, gibt ihnen das Sicherheit und Ruhe. Foto: Zora del Buono

Da das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktioniert, muss das Langzeitgedächtnis aktiviert werden

Die Fotografie suggeriert eine vertraute Welt?

Menschen mit einer Demenzerkrankung leben in einer Situation, in der sie mit ihrer Umgebung nicht zurechtkommen. Das heißt, sie sind auf der Suche nach etwas Vertrautem, etwas was ihnen Halt gibt. Deswegen würde man Fotografien benutzen, die genau diese vertrauten Erinnerungen wachrufen können.

Zum Beispiel, um das mal auf einer persönlichen Ebene zu sagen, wenn jemand häufig im Hotel in Sils Maria gewesen war und dort vor Eintreten der Demenz angenehme Erinnerungen durch die Architektur und durch die Landschaft bekommen hat, wäre es sinnvoll, wenn er dann demenzkrank wird, Fotografien von Sils Maria zu benutzen.

Das heißt, man aktiviert das Langzeitgedächtnis?

Genau. Dadurch, dass die Betroffenen keine Möglichkeit mehr haben, neu Erlerntes zu behalten, sprich das Kurzzeitgedächtnis gestört ist, muss man von früher her bestehende Erinnerungen stärken. Wenn diese positiv besetzt sind, wird das zu einer Verbesserung des Stimmungsbildes führen.

Mal praktisch gesprochen: Ein Mensch mit einer Demenzerkrankung ist in einer ihm unvertrauten Umgebung, zum Beispiel einer Heimeinrichtung. Er wird zunächst verwirrt sein und sucht seine vertraute Umgebung. Da er diese nicht findet, wird er zunehmend angespannt, missmutiger und möglicherweise sogar aggressiv.

Hier kann eine Fotografie helfen, weil sie die positiv besetzte Erinnerung an frühere Zeiten wachrufen kann. Der Patient würde entspannter, weil die Fotografie ihm das Gefühl von Orientierung und Sicherheit gibt. So können Stimmungslagen, aber auch Verhaltensauffälligkeiten behandelt werden.

Ziel aller nicht-medikamentösen Therapieverfahren ist eine solche Stabilisierung der Emotionalität. Der Einsatz der Reminiszenztherapie, genauso wie der Einsatz von Musik und anderen Stimulationsverfahren, ist wissenschaftlich gut belegt. Es gibt Hinweise, dass nicht-medikamentöse Therapieverfahren zur Verbesserung der Lebensqualität deutlich effektiver sind als medikamentöse Interventionen.

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Kinder können ihre Emotionen auf vielfältigste Art ausleben und ausdrücken. Im Laufe des Erwachsenlebens verlieren wir diese Fähigkeit immer mehr, wir «verkopfen». Auf den Fotos ist Zora del Buonos Mutter als kleines Kind im Fotostudio in der Schweiz zu sehen, um 1938

Demenzerkrankte leben in ihrer Vergangenheit. Ihre Umgebung sollte dem angepasst werden

Man muss gut aufpassen, welche Bilder man auswählt. Denn sind sie negativ besetzt ...

Ja, die Emotionen, die durch die Bilder ausgelöst werden können, sind natürlich vielfältig. Ziel ist es, Bilder auszusuchen, die positiv besetzte Emotionen auslösen können. Das könnten Bilder von Familienurlauben sein, von Hochzeiten, tollen Erlebnissen, spektakulären Reisen, also alles das, was uns auch als Gesunde lange in Erinnerung bleibt und Freude beim Betrachten auslösen würde.

Um herauszubekommen, welche Bilder sinnvoll für den einzelnen Patienten sind, macht man sich auf die Suche nach positiv besetzten Erinnerungen. Um es auch hier praktisch zu sagen: Ich selbst habe sehr positive Erinnerungen an eine Übernachtung auf dem Gipfel des Brockens im Harz. Ich habe dort früh um 5 Uhr den Sonnenaufgang sehen dürfen, eine wunderschöne und fantastische Stimmung.

Wenn ich einmal demenzkrank wäre, würden Bilder, die dort aufgenommen worden sind, bei mir eine angenehme Erinnerung wachrufen. Ich würde mich sicherer und geborgener fühlen, wäre entspannter und trotz meiner Desorientierung als Demenzkranker beruhigter und weniger angespannt und aggressiv.

Das heißt, die Aufgabe als Angehörige oder Pflegende ist es, Schnipsel aus der Biografie des Betroffenen zu finden, die ihm ein angenehmes Gefühl hinterlassen. 

Ja. Darüber hinaus spielen Fotografien in der Umgebungsgestaltung eine wichtige Rolle. Demenzerkrankte leben in ihrer Vergangenheit. Ihre Umgebung sollte dem angepasst werden. In der Wohnung angebrachte Fotografien von bedeutsamen Ereignissen oder von bekannten oder vertrauten Persönlichkeiten aus der Jugend können zu einem Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit führen.

Ich fühle die Frustration meiner Mutter, wenn sie Menschen auf Bildern nicht erkennt, weder ihren verstorbenen Mann noch ihre Eltern. Wie gehe ich damit um?

Gerade wenn man als demenzkranker Mensch spürt, dass man bestimmte Fähigkeiten verliert, führt das zunächst zur Frustration und im Verlaufe kann herausforderndes Verhalten entstehen. Die geschilderte Situation ist eine klassische Domäne für die Validation.

Dabei geht es im weitesten Sinne darum, von der Idee, wer ist wer auf den Bildern, umzulenken auf die emotionale Situation des Bildes. Dieses Verfahren nennt man Umlenkung oder eben Validation. Man könnte in der geschilderten Situation darauf umlenken, wie deine Mutter sich bei Aufnahme des Bildes gefühlt hat. Was ist angenehm gewesen?

Ein Sohn einer meiner demenzkranken Patientinnen schilderte mir einmal, dass er seine Mutter nach meiner Visite besucht hatte. Offensichtlich waren seiner Mutter meine blauen Augen in Erinnerung geblieben und sie sagte ihrem Sohn «Den kenn ich irgendwo her. In den muss ich früher mal ziemlich verknallt gewesen sein».

Es geht also bei diesem Beispiel gar nicht darum, wer die Person ist und wie sie heißt, sondern was ich emotional mit ihr verbinde.

Fotografien können auch bei Orientierungslosigkeit eingesetzt werden, zum Beispiel im Heim. Häufig verwechseln Demenzerkrankte ihre Zimmer und finden nicht zurück.

Portraits der Betroffenen aus der Zeit vor der Erkrankung können helfen, das richtige Zimmer zu finden. Es müssen nicht die Abbildungen der Betroffenen sein, obwohl diese sich als besonders wirksam erweisen, vor allem Bilder aus der Jugendzeit. Auch emotional getriggerte Bilder aufzukleben kann sinnvoll sein, bei Hundeliebhabern zum Beispiel Hunde, weil man eine hohe emotionale Verbundenheit mit dem Tier hat.

Vorsicht ist allerdings geboten, wenn auf der Station oder im Heim mehrere Hundeliebhaber sind. Hier käme es durchaus zu einem Durcheinander.

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Tiere können das emotionale Erleben von Demenzkranken enorm anregen. Gerade wer einst einen Hund besaß, kann durch Fotos von Hunden glücklich gemacht werden. In Heimeinrichtungen kann ein Bild des eigenen Hundes an die Zimmertür hilfreich sein, damit der Bewohner sein Zimmer findet. Foto Bernadinerhunde, 1886: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA

«Validation» nennt sich eine Technik, die auch Angehörige lernen können, um ihnen den Umgang mit Demenzkranken zu erleichtern

Apropos Hund: Mutter sieht das Bild ihres Hundes und denkt manchmal, er sei lebendig. Was tun? Andrerseits schimpft sie aber auch, wenn ich meine echten Hunde nach einem  Besuch wieder mitnehme, weil es ja ihre Hunde seien. Ich zeige dann auf das Bild, dass das ihr Hund war und der tot ist. Ist das falsch?

Auch hier sollte die Validation zur Anwendung kommen. Es geht bei der Validation darum, die Patienten nicht in «unsere Realität» zurückzuholen, sondern «ihre Realität» anzuerkennen.

Auch wenn wir wissen, dass der Hund nicht mehr lebt, verbindet deine Mutter mit dem Hund angenehme Emotionen und Erinnerungen. Die sollten bestätigt und bestärkt werden, zum Beispiel «Was für ein wundervoller Hund und wie gut er gerochen hat. Wie schön es war, mit ihm herumzutollen».

Es sollte auf jeden Fall vermieden werden, die Patienten mit unserer Realität zu konfrontieren. Dass der Hund tot ist, kann die Demenzkranke nicht akzeptieren, da sie es anders fühlt.

Die Information, dass er tot ist, nützt ihr nichts. Deswegen umlenken. Die Emotionen, die mit dem Hund verbunden sind, benennen und bestärken und dann auf ein anderes ebenfalls angenehmes Thema zu sprechen kommen.

Was ich grundsätzlich nicht verstehe: Sind die Betroffenen immer in einer anderen Zeit? Es klingt jetzt so, als ob man nur herausfinden müsste, in welchem Jahr die Person sich befindet und dann darauf eingehen könnte. Meine Mutter ist aber mal hier, mal da. Dann sagen ihr Bilder etwas oder eben auch nicht. Beispiel an schlechten Tagen: Sie erkennt zwar die Frau und ihr Baby auf dem Bild als «eine Mutter mit ihrem Kind», aber nicht mehr als Marlis mit der kleinen Zora. 
 
Das ist ein Missverständnis. Menschen mit Demenzerkrankung sind nicht immer in einer ganz bestimmten vergangenen Zeit. Weil sie aber gerade den Teil des Gehirns verlieren, der mit Lernfähigkeit verbunden ist, können sie neue Sachverhalte nicht mehr speichern.

Das führt dazu, dass das Gehirn automatisch auf alte Erinnerungen zurückgreifen muss. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich die Patienten meist in der Vergangenheit wähnen. Das Hier und Jetzt können sie sich nicht mehr einprägen und blenden es deswegen aus.

Das Ganze fluktuiert selbstverständlich aber, weil der Hirnabbauprozess kein kontinuierlicher ist. Man kann das also nicht auf ein bestimmtes Jahr festlegen und im Laufe der Erkrankung verändert sich dies auch. Auch das gehört zur Biografiearbeit, immer intra-individuell in der Therapie festzustellen, in welchem Teil der Vergangenheit sich der oder die Betroffene jetzt gerade befindet. 

Ein zweites Missverständnis ist mir aufgefallen. Du sagst, dass «sie die Frau erkennt und ihr Baby, aber nicht mehr Marlis und die kleine Zora».

Es darf beim Betrachten der Bilder keinesfalls darum gehen, irgendwelche Personen erkennen oder benennen zu müssen. Dies ist eine Leistung, die bei Demenzkranken zunehmend schwindet. Diese zu üben, würde zur Frustration führen, weil der Patient merkt, dass er nicht mehr erinnern kann.

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Sich in einer Welt zu bewegen, die man nicht mehr versteht, kann Angst, Frustration und auch Aggression auslösen. Mit Hilfe von Techniken wie der Validation oder auch der Arbeit mit Fotografien, können Erkrankte beruhigt werden. Foto: Edgar Herbst

Aufgrund der Hirnabbauprozesse wähnen sich demenzkranke Menschen oft nicht in unserer Zeit. Um ihnen trotzdem Orientierung zu ermöglichen, sollte man «ihre Realität» anerkennen

Sprechen wir doch über visuelle Wahrnehmung. Was passiert eigentlich im Gehirn?
 
Wichtig ist zu verstehen, wie komplex unsere visuelle Wahrnehmung ist und wie sie sich im Alter und bei Demenz verändert.

Bei der visuellen Wahrnehmung werden optische Reize über unser Auge aufgenommen und an das Gehirn weitergeleitet, wo eine Extraktion und Verarbeitung relevanter Informationen erfolgt. Dadurch ist ein Erkennen von Elementen und deren Interpretation durch Abgleich mit Erinnerungen möglich. Visuelle Wahrnehmung ist also deutlich mehr als reines Aufnehmen von Informationen.

Visuelle Informationen werden über das Auge aufgenommen, indem sie die Netzhaut aktivieren und die Lichtreize in elektrische Erregung umgewandelt werden. Die Nervenzellen der Netzhaut geben diese Informationen an die innere Schicht des Auges, die Ganglienzellen, weiter zum Sehnerv. Dieser besteht aus ca. 800.000 Nervenfasern und leitet die Informationen über die Sehnervenkreuzung weiter.

Die linke Hirnhälfte erhält dabei Informationen des rechten Auges, die rechte Hirnhälfte des linken Auges. Optisches Wahrnehmen funktioniert dabei so, dass sich unterschiedliche sensorische Informationen etwa durch Sehen und Tasten mittels Verarbeitung durch das Gehirn zuverlässiger beurteilen und integrieren lassen.

Wirkt etwa ein Gegenstand beim Berühren größer als er aussieht, vergleicht das Gehirn diese unterschiedlichen Informationen und gleicht unsere visuelle Wahrnehmung entsprechend aus. Hierbei kommt eine besondere Bedeutung dem Hinterhauptlappen des Gehirns zu. Aber auch in anderen Hirnregionen sind Nervenzellen auf visuelle Wahrnehmung spezialisiert, etwa Farben zu erkennen und auszuwerten oder Bewegungen zu analysieren.

Bei einer Demenzerkrankung kommt es zu einer Schädigung dieser Hirnregionen und damit zu einer Einschränkung der visuellen Wahrnehmung, etwa der Gesichtererkennung. Dies hat wesentlichen Einfluss auf die Lebensqualität der Demenzerkrankten, da diese Einschränkungen dazu führen, dass sie Angehörige nicht mehr als vertraute Personen erkennen können. Auch hier kann das Betrachten von vertrauten Bildern aus der Vergangenheit emotional stärken.
 
Wenn Mutter mich nicht erkennt, soll ich ihr also Bilder von mir vor zwanzig Jahren zeigen?
 
Aufgrund der Hirnabbauprozesse, insbesondere im Bereich des Hippocampus, einem Bereich des Gehirns, der für das Gedächtnis zuständig ist, kommt es dazu, dass sich demenzkranke Menschen in der Vergangenheit wähnen. Um ihnen trotzdem zu ermöglichen, sich zu orientieren, sollte man «ihre Realität» anerkennen.

Wenn diese Realität aktuell gerade in einer Zeit vor zum Beispiel zwanzig Jahren liegt, macht es durchaus Sinn, auch Bilder von vor zwanzig Jahren zu zeigen.

Eine besondere Bedeutung kommt der Fotografie in der Arbeit mit Angehörigen zu. Gerade pflegende Angehörige tragen eine Hauptlast der schweren Erkrankung Demenz. Je länger ein Mensch an Demenz leidet, desto intensiver kann es zu Persönlichkeitsänderungen kommen.

Diesem Identitätsverlust kann entgegengewirkt werden, indem man Erinnerungen an die Vergangenheit aufrechterhält. Dies wirkt sogenannten Verhaltensauffälligkeiten von Erkrankten entgegen. Der Einsatz von Fotografie ist somit ein wichtiger entlastender Faktor für Angehörige, da sie nun selbst und aktiv therapeutisch wirksam werden können.
 
Das ist nicht immer einfach. Mutter legt die Bilder nach zwei Minuten weg und sagt Plattitüden wie «ja, ja die sind auch alle nicht mehr so schön wie früher».
 
Der Umgang mit Demenzkranken ist für die emotional eingebundenen Angehörigen eine schwierige und komplexe Angelegenheit. Für einen Professionellen ist das etwas einfacher.

Dennoch bleibt das Grundprinzip gleich, nämlich die Aktivierung von Menschen mit Demenzerkrankung, auch wenn diese zunächst Frustration und Ablehnung zeigen wie in dem von dir geschilderten Fall. Fotografien lassen uns zudem in die Lebenswelt der Erkrankten eintauchen und machen deren Welt sichtbar.
 
Die Fotos sind für uns Angehörige also eine Art Schlüssel zum emotionalen Empfinden der Erkrankten. Aber was ist eigentlich mit «herausforderndem Verhalten» gemeint?
 
Herausforderndes Verhalten bei Demenz kann unterschiedlicher Natur sein. Man unterscheidet produktive Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Unruhe und Enthemmung und reaktive Verhaltensauffälligkeiten wie Apathie, Zurückgezogenheit, Nichtaufnahme von Nahrung und Flüssigkeit und Antriebslosigkeit. Diese Verhaltensauffälligkeiten sind ein hoher Risikofaktor für Verzweiflung von Angehörigen.
 
Zum Schluss eine eher philosophische Frage...  Was bedeutet es, wenn ein Mensch sich auf Bildern nicht mehr erkennt? Ist sein Selbst dann verloren oder gibt es etwas anderes, das ihn bei sich hält?
 
Eine schwierige Frage. Zunächst heißt es erstmal, dass die Erkennung von Mustern, Farben etc. aufgrund des Hirnabbauprozesses nicht mehr gewährleistet ist. Wie gesagt betrifft dies insbesondere den Hinterhauptlappen des Gehirns des Patienten.

Wenn dieser zunehmend abbaut, können wir komplexere Strukturen und Formen nicht mehr richtig wahrnehmen. Ich persönlich denke nicht, dass das Selbst verloren ist, wenn man sich nicht mehr erkennt, aber es ist Ausdruck dessen, dass man sich im Hier und Jetzt nicht mehr zurechtfindet.

Eine Demenzpatientin hatte mir einmal in den Morgenstunden sehr aufgeregt und unruhig erklärt: «Ich bin auf der Suche nach dem gestrigen Tag.»

Torsten Kratz

Prof. Dr. Torsten Kratz leitet die Alterspsychiatrie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin (Lehrkrankenhaus der Charité). Er studierte an der Friedrich-Schiller Universität zu Jena, der University of Limerick in Irland und der Western University Ontario in Kanada. Er ist Facharzt für Neurologie, Facharzt für Nervenheilkunde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und hat die Zusatzbezeichnungen Geriatrie und Gerontopsychiatrie. Wissenschaftlich beforscht er die Demenzerkrankungen, besonders die Verhaltensauffälligkeiten und die Verwirrtheitszustände sowie deren rechtliche und ethische Herausforderungen und publiziert in nationalen und internationalen Zeitschriften. Er erhielt den Ehrenpreis der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), den Innovationspreis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und wurde durch die Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet und mit Forschungsmitteln bedacht.

Zora del Buono

Zora del Buono studierte Architektur an der ETH Zürich, war Bauleiterin in Berlin, wechselte das Berufsfeld und wurde Mitbegründerin der Zeitschrift mare, wo sie bis heute Teilzeitredakteurin ist. 2008 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem sechs weitere Bücher folgten. Ihr letztes Buch ist der Familienroman «Die Marschallin», erschienen bei C.H. Beck. Obwohl sie familiär immer wieder mit Demenz konfrontiert wurde, ist die Alzheimererkrankung ihrer Mutter emotional herausfordernd. Oftmals wird ihr empfohlen, ein Buch darüber zu schreiben, was sie aber nicht zu tun gedenkt, weil es schon viele gute Bücher zu dem Thema gibt. Zora del Buono ist Redaktionsmitglied von ReVue und lebt in Zürich und Berlin. 

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