Ausschnitt aus einem Foto von Fred Stein, das den Coenties Slip im Jahr 1946 zeigt (© Fred Stein Archiv)
Einst ikonisch, heute verschwunden: die Kurve der Hochbahn am Coenties Slip
Text — Helene Roth — 21.04.2022
Abbildungen — Fred Stein Archiv, The New York Public Library Digital Collections, Collection of the New-York Historical Society, Estate of T. Lux Feininger
New York war einer der Zielorte für geflüchtete europäische Künstler zwischen 1900 und 1950, als Kriege und Diktaturen, Gewalt und Unterdrückung Tausende von ihnen zur Emigration zwangen. Ähnlich wie ihre amerikanischen Kolleginnen und Kollegen übten sich Emigrierte an fotografischen und technischen Visualisierungen der Stadt. Sie teilten ihre Faszination der aufstrebenden Bauten, architektonischen Gegensätze, des Blicks aus der Höhe oder der vielschichtigen transkulturellen Begegnungen auf den Straßen.
Zahlreiche emigrierte Fotografinnen und Fotografen wählten die Infrastruktur der Hochbahnen («Elevated Railway», kurz «El»), deren Eisenkonstruktionen und markante Plätze der Gleisführung zum Bildmotiv ihrer Arbeiten. Die Hochbahnen prägten das Stadtbild radikal und waren in den 1940er-Jahren gleichzeitig am Verschwinden. Bereits 1868 fuhren die ersten dampfgetriebenen Eisenbahnen auf erhöhten Gleisanlagen in New York, um den Verkehr von Omnibussen und Pferdekutschen zu mindern und ihn in die Höhe der Stadt zu verlagern.
Wie ein Artikel in der New York Times über die Eröffnung verdeutlicht, sorgte die neue Transitform jedoch von Beginn an für Unmut und Skepsis und wurde mit negativen Erfahrungen beschrieben: «(...) die Menschen in den Straßen unter uns sind zu Zwergen reduziert, und das Geräusch der sich bewegenden Fahrzeuge ist nur sehr schwach zu hören (...) es erfordert ein wenig Mut, sich an das Wagenfenster zu setzen und stetig auf die Straße hinabzuschauen (...).» [1]
Auch führte die Verdunklung der untersten Stockwerke der Gebäude durch die Bahn zu einer Reduktion der Lebensqualität und die Abgase der Dampfmaschinen wurden als gesundheitliche Gefahr eingestuft. Die trostlose und zugleich mystisch wirkende Atmosphäre findet sich auch den Schilderungen des Schriftstellers E.B. White, wenn er schreibt: «Wenn man nachts durch die Bowery unter der Hochbahn hindurchgeht, fühlt man nur noch eine Art kaltes Schuldgefühl.» [2]
Ein Stadtplan aus den 1920er Jahren verdeutlicht die S-förmigen Streckenführung der Hochbahn über den Coenties Slip, die die Front Street und Pearl Street im Hafengebiet in Lower Manhattan miteinander verband. Bromley Map, New York 1921/23 (Quelle: Lionel Pincus and Princess Firyal Map Division, The New York Public Library Digital Collections, New York)
Umso erstaunlicher ist, dass die Mehrheit der fotografierenden Emigrierten die Linien der Elevated Railway vom Boden aus aufnahmen. Entgegen der Skepsis und Kritik erschlossen sie den städtischen Raum in grafischen, ästhetischen Visualisierungen, die die Faszination für die Eisenkonstruktionen, horizontale Staffelungen der Gebäude und das Changieren von Licht und Schatten zum Ausdruck brachten.
Zu nennen wären beispielsweise Ilse Bing, Andreas Feininger, Ellen Auerbach, André Kertész, Robert Haas, Walter Sanders, Fred Stein oder Mario Bucovich, die sich alle Ende der 1930er-, Anfang der 1940er-Jahre und somit relativ zu Beginn ihrer Emigration nach New York dem Motiv der Hochbahn widmeten.
Amerikanische Kolleginnen und Kollegen wie Berenice Abbot, Barbara Morgan, John Gutmann oder Samuel H. Gottscho hatten bereits Anfang der 1930er-Jahre die Hochbahn fotografiert. Somit folgten die Emigrierten einer medial geprägten Bildmotivik und -sprache, die in eigenen Aufnahmen geübt, experimentiert und manifestiert wurden.
Heute ist es kaum vorstellbar, dass zwischen der Water Street und dem Platz des New York Vietnam Veteran’s Memorial die Hochbahnlinie der ehemaligen Second und Third Avenue um die Ecke der Gebäude verlief. Lediglich ein kleiner Straßenzug mit dem Namen «Coenties Slip» erinnert an die vergangene Linienführung.
Das Straßenbild und die Stadtlandschaft wurden durch die Hochbahnen radikal geprägt. Die 1878 erbaute «2nd Ave. El» war eine der vier Linien (Second, Third, Sixth und Nine Ave.), die in den 1870er Jahren in der Hoffnung gebaut wurden, die Verkehrsprobleme und überfüllten Straßen New Yorks zu lösen. Die S-Kurve befand sich ursprünglich an der heutigen Ecke von 2 Coenties Slip, auch bekannt als 74 Pearl Street. Mit dem Bau der U-Bahnen wurde 1942 die «2nd Ave. El», im Jahr 1955 die «3rd Ave. El» abgerissen.
1941 übersiedelte Andreas Feininger über Paris und Stockholm nach New York, wohin bereits sein Bruder T. Lux Feininger und seine Eltern emigriert waren. Er war von der Architektur der Stadt New York sehr angetan und machte mehrere hundert Aufnahmen von der Metropole. Seine Aufnahmen plante er meist im Voraus, indem er historische und zeitgenössische Karten studierte, die Lichtverhältnisse und die Atmosphäre für den jeweiligen Tageszeitpunkt genau auslotete und auch andere Faktoren wie die Hauptverkehrszeiten berücksichtigte. Die Arbeit mit einer Rolleiflex-Kamera ermöglichte es ihm, den Fotoapparat dynamisch vor seinem Körper zu halten und mit den architektonischen Linien in Bezug zu setzen.
Andreas Feiningers Aufnahme aus dem Archiv der New York Historical Society vermittelt einen Eindruck, wie sich die mystische Konstruktion aus Stahl hoch über die enge Kurve schlängelte und bis in die ersten und zweiten Stockwerke der Gebäude verlief.
Bekannte Motive, neu interpretiert: Die Emigrierten begeisterten sich für die Hochbahn und experimentierten mit eigenen Aufnahmen
In seiner agilen Kameraführung experimentierte Andreas Feininger im urbanen Raum und nahm unterschiedliche Perspektiven ein. Im Querformat und einer Halbtotale fokussierte er die schlängelnde Gleisführung der Hochbahn und referierte gleichzeitig in der Aufnahme des Passanten auf die urbanen Größenverhältnisse. In einer weiteren hochformatigen Aufnahme neigte Feininger seine Kamera so weit nach oben, bis sich die Hochbahnlinie auf gleicher Höhe mit der Spitze des Telephone Building befand. Wie ein Fall aus der Höhe einer Achterbahn erstreckt sich die Gleisführung über den Kopf hinweg und zwängt sich zwischen die enge Schlucht der Häuserzeilen.
Der in Dresden geborene Fotograf Fred Stein, der 1941 nach New York kam, experimentierte ebenfalls mit Untersicht und einer dynamischen Kameraführung am Coenties Slip. Grafische und geometrische Gegensätze rahmen die horizontal und vertikal verlaufenden Eisenkonstruktionen, den mittleren Teil der Hochhäuser.
Ähnlich wie Andreas Feininger agierte Fred Stein mit seiner Kamera im Gegenlicht weit oberhalb des Kopfs, um in hohen Kontrasten gleichzeitig die Hochhäuser in der Ferne und die kurvigen und stürzenden Linien der Hochbahn aus der Nähe visualisieren zu können. Je nach Leserichtung steigt oder fällt die Gleisführung aus den Bildrändern hinaus. Fest verankert flankiert sich fast parallel der linke Metallstrang zum Bank of Manhattan Company Building (heute 40 Wall Street) und City Bank Farmers Trust Building (heute 20 Exchange Place). Beide Hochhäuser wurden 1930 fertiggestellt und galten bis zur Fertigstellung des Empire State Buildings 1931 als die höchsten Gebäude der Welt.
«Coenties Slip» von Fred Stein, 1946 (© Fred Stein Archiv). Das Cover des französischen Magazins «Entre nous» zeigt die Fotografie von Fred Stein, Februar 1948. Eine kleine Notiz informiert die Leserschaft, dass dieses Foto Teil von Fred Steins Kalender «Picturesque New York calender» ist (Lumen Publishers, 1948). Reproduktion: Helene Roth, 2019 (© Fred Stein Archiv)
Mit der Reproduktion der Fotografie als Titelbild für die französische Zeitschrift «Entre nous» erreichte Stein die internationale Verbreitung seiner Aufnahme des Coenties Slip. Es verdeutlicht die Nachfrage nach modernen und gewagten Stadtansichten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass mehr als zehn Jahre zuvor der amerikanische Architektur-Fotograf Samuel Gottscho eine ähnliche Aufnahme gemacht hatte und der Coenties Slip damit bereits in den 1930er-Jahren zum ikonischen visuellen Repertoire New Yorks gezählt werden kann.
Diese These wird durch eine weitere, wenn auch optisch weniger gewagte Aufnahme von Mario Bucovich bestätigt, die in seinem Fotobuch «Manhattan Magic» (M. B. Publishing, 1937) veröffentlicht wurde. Ähnlich wie Fred Stein stand Bucovich linkerhand der Hochbahn. Die einfallenden Sonnenstrahlen verwandeln den Asphalt in gitterartige Schattenwürfen der Eisenkonstruktionen. Das Anschneiden der Gleisführung und des City Bank Farmers Trust Buildings betont dabei die horizontale als auch vertikale Ausdehnung der Metropole im urbanen Raum.
Neben fotografischen Visualisierungen avancierte die Coenties S-Kurve auch in Dokumentarfilmen zur Protagonistin. In Anbetracht des bevorstehenden Abbaus der 3rd Avenue Hochbahnlinie kreierte der Filmemacher Carson Davidson 1955 den Kurzfilm «3rd. Ave. El». In Minute 2 kann filmisch das rasante Einbiegen in die Kurve des Coenties Slip nachempfunden werden und verdeutlicht Außenstehenden das Gefühl der Bewegung und Beschleunigung auf der Fahrt.
«Film 3rd Ave. El», Carson Davidson, 1955 (© The Academic Film Archive of North America)
Interessanterweise finden sich in der Filmmusik erneut Spuren der Emigration. Die Aufnahme von Haydn’s Konzert in D-Dur, das ein sinnerweiterndes Äquivalent zu der Schnelligkeit der Fahrt bildet, stammt von der polnischen Cembalistin Wanda Landowska, die 1941 nach New York emigrierte. 1942 spielte sie als erste Musikerin Bachs Goldberg-Variationen für das in der Original-Partitur vorgesehene Cembalo in der New Yorker Town Hall. In den 1950er-Jahren machte der deutsch-amerikanische Fotograf Herman Landshoff eine Reihe von Aufnahmen von Landowska in ihrem Haus in Connecticut, in deren Mittelpunkt ihre langen und biegsamen Finger standen – Quelle und Werkzeug für ihre Musik.
1938 fotografierte T. Lux Feininger, Bruder von Andreas Feininger, aus dem Fenster der Wohnung seiner Eltern Julia und Lyonel Feininger an der 235 East 22nd Street den Blick auf die Hochbahn der 2nd Avenue. Auch ihn animierte der kurvenreiche Streckenverlauf zu einer dynamischen schrägen Perspektive, in der die Gleise zwischen den Häuserzeilen entspringen. Der erhöhte Blick verdeutlicht, wie sich die Hochbahn als metallene Konstruktion im Stadtbild über den Autos hinweg ihren Weg bahnte. Lux Feininger vermerkte auf der Rückseite des Abzugs, dass dieser Teil der Hochbahn 1942 abgerissen wurde.
Aus der Faszination, Experimentierfreude und Repetition signifikanter Punkte der Städtearchitektur entstanden über das Medium der Fotografie ikonische Bildsubjekte.
Ein weiteres Motiv, das neben den schlängelnden Kurven des Coenties Slip fotografisch visualisiert wurde, waren die Schattenwürfe der Gitterstrukturen der Hochbahnen auf den Straßen New Yorks. Hier ging es um Ausleuchtung der Hell- und Dunkelkontraste und die Wirkungen von Licht und Schatten unter den Hochbahnen. Auch die 1937 in New York angekommene Fotografin Ellen Auerbach fotografierte auf einem ihrer ersten Spaziergänge durch Brooklyn die über ihr verlaufenden Gleise der Hochbahnlinie der Myrtle Avenue EL.
«ohne Titel», unter der Hochbahn in New York, 1937 von Ellen Auerbach (© Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Auerbach 15./ VG Bild-Kunst, Bonn 2022 )
Mit ihrer Kleinbildkamera richtete sie den Blick nach Westen entlang der Myrtle Avenue von der südöstlichen Ecke der Vanderbilt Avenue aus. Womöglich stand sie auf Höhe der Haltestelle der Vanderbuilt Avenue, wie ein historischer Fahrplan aus 1948 verdeutlicht.
Ellen Auerbach hatte mit ihrem Mann Walter Auerbach eine Wohnung in der 211 Clearmont Street bezogen, die weniger als 10 Minuten zu Fuß von der Hochbahnlinie entfernt lag. Voraussetzung für die Aufnahme musste ein heller, sonnenreicher Tag sein, um die Kontraste zwischen schattenreichen und lichtdurchfluteten Musterungen der Hochbahnlinie fotografieren zu können. Die Fotografin platzierte sich in die Mitte der Fahrbahn und wartete auf einen verkehrsarmen Moment für die Aufnahme. Die Myrtle Avenue Line war bis 1969 in Takt (der Streckenabschnitt ab der Brooklyn Brücke bis Manhattan bis 1944).
So tragen diese Aufnahmen der emigrierten Fotografinnen und Fotografen heute zu einem Teil der Stadtgeschichte New Yorks bei und machen unsichtbare Spuren visuell lebendig.
[2] «Walk the Bowery down under the El at night and all you feel is a sort of cold guilt.» (White 1949, S. 43)
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