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Kolumne

Café Herbst
oder die Reise zum Amazonas

aufgezeichnet von
Edgar Herbst

Dies ist die Geschichte des Zuckerbäckersohns Edgar Herbst, der zum visuellen Aufzeichner avanciert. Er notiert seine Wahrnehmungen des Aufwachsens in der Harzer Natur in der späten Nachkriegszeit und irrt auf unbestimmten Pfaden der Provinzen bis in die Metropolen Frankfurt - Hamburg - Berlin. Anerkennung suchend und Aufmerksamkeit erweckend, mit zerfleddertem Smoking und brandlöchrigem Seidenschal, selten ohne Hut, schenkt er sein Auge der gesellschaftlichen Dekadenz, übermütig in der Darstellung seines Gegenüber und seiner selbst. Aus diesem geistigen und materiellen Archiv soll - schonungslos und gleichsam von Selbstironie gezeichnet - ein Buchwerk panoptischer Fülle entstehen. 

Text — Edgar Herbst – 15.05.2022

Fotos — Archiv und Edgar Herbst

Teil 6: Der Hafen im Hornfjord

Freudetrunken wandelte der Jubilar auf der Landstraße, nahe dem Hafen von Hornfjord. In einem edlen Gasthaus hatte er ausschweifend, in heiterster Einsamkeit den 50. Jahrestag seiner Welterscheinung gefeiert, mit pikantem Lammgericht, so manch frischem Kruge isländischen Biers und zum Dessert unzählige Wodkas «zum Wohl auf sich selbst» gar eigensinnig zelebriert.
 
Sinnlich berauscht machte er sich zu gekommener Stunde blauschwarzer Dunkelheit auf den Weg zu seinem Nachtlager. Taumelnd, schwankend, tanzender Gedanken, trugen ihn seine Füße entlang des Randes einer spärlich beleuchteten Straße, bis ihn ein plötzlicher Schwindelanfall überkam und er niedersank, in den weichen moosigen Graben des Pfades.
 
Ein zartes und liebevolles Kitzeln an seinem bartwüchsigen Kinn ließ ihn nach kurzer Bewusstlosigkeit erstaunt und erfreut erwachen, denn eine Elfengestalt in fliegendem Weiß flüsterte ihm in sanfter Melodie singend in sein Ohr; sie habe ihn erwartet, eine kleine Überraschung zu seinem besonderem Tage sei vorbereitet, er möge ihr trauen und folgen.
 
Lächelnd, den Niederliegenden an die Hand nehmend, um wieder in seinen Schritt zu kommen, führte sie ihn, entführte sie ihn in die feucht saftgrün und wohltemperierte Mooswelt. Sie spazierten eine Weile, bis die Sporen der Pflanzen die eigene Körpergröße überragten, und jeder Grashalm wie ein weit in den Himmel ragendes Gewächs wirkte.   
 
Der geisterhaft und prickelnd unheimliche Pfad führte durch nie gesehene Pflanzen- und Gesteinsformen in die Unterwelt isländischer Natur, bis sie eine nebelumwobene Höhle erreichten, die tief in einem unterirdischem Felsen liegend, durch einen kleinen Spalt in der Höhe vom Mondlicht beschienen, dessen weiches Licht wie ein warmer Spot auf eine mystische Szenerie, sichtbarer und gleichsam unsichtbarer Wesen strahlte, die einen geheimnisvollen, magischen Tanz vorführten, begleitet von Flötentönen und Harfenzupfen in psychodelischen Klängen. Der Reisende ward nun Ehrengast beim entzückenden Schauspiel eines Elfentanzes und schaute wie elektrisiert auf die ästhetischen und phantasievollen Bewegungen graziler Figuren voller Erhabenheit und Schönheit.
 
Wieder flüsterte ihm jene Gestalt, die ihn einst am Wegesrand aufnahm, zu, das sei sein Geschenk, die Inszenierung bedeute „Tanz des Seelenfriedens“. Das Erleben verspräche dem Erlebenden und somit ihm, die bösen und quälenden Geister zu vertreiben und die Energie heilender Kräfte zu erfahren.
 
Das farbenfrohe Theater der Unterwelt füllte sich mit der reinsten Form der Liebe mit der farblichen Nuance von Pfirsichblüt. Auf dem Höhepunkt der Performance fiel der Reisende wieder in eine Trance, die sich anfühlte, als würde er von vielen zarten Händen getragen.
 
Ein leise tönendes Hupsignal eines fahrenden Gefährts weckte den im Straßengraben Versunkenen. Der Fahrer fragte ihn freundlichst, ob er ihm helfen könne, doch der Erweckte verneinte herzlich dankend und beruhigend, er habe seinen Geburtstag gefeiert, sich auf seinem Heimweg eine erholsame Rast gegönnt, wobei er wohl in einen Traum versunken sei.

Edgar Herbst
1961 nach wilder bis halsbrecherischer Slalomfahrt im Mutterleib, hochsommerliche Ankunft in der blass colorierten schwarz-weiss Kulisse des Kurortes Bad Lauterberg. Frühkindlicher Taumel durch den idylisch anmutenden Kosmos der Grossfamilie, Zuckerbäckerei, Pferdeherden, Wasser- und Schneeathleten, inmitten des Harzgebirges untermalt von Hexentanz und Geistersynphonien. Irritiert, sprachlos ob der Selbstsprengung der Familie. Erste Selbstwahrnehmung lebendigen Seins auf dem Internat Schloss Varenholz unter Gleichgesinnten in der Knospenzeit des jungen irr Wandelnden. Metropolenberührung in Frankfurt am Main, Erforschung der Großstadt mit hungrigen Augen im zwielichtigen Areal. Entdeckung der Liebe zur photographischen Aufzeichnung. Hingabevolles Wirken in der medialen Magazinwelt «Orangepress», brodelndes Labor, psychedelische Wirkstoffe und Feuerwasser fördern die Sehformel in rauschhaften Prozessen. Hamburg - Festung der bedruckten Blätter; zum Exzess beauftragt und diesen verinnerlicht. Monitäre Unüberschaubarkeiten, Flucht zum ich - Berlin! Insozialer Absturz - Clochard de luxe - Schmerz, Rausch, Schöpfen in Erschöpfung; gefühlt Ober- und Unterkante Universum, Abstinenz- statt Absinth - Belebung des Innen und Außen - im Beiboot des Dampfers die unvermeidliche Selbstironie Lebens und Sterbens. Waghalsiger Plan der Liebe einen Sockel zu kreieren - immer mit nervösem Charakter friedlicher Manie.
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Edgar Herbst, Neues Ufer 11, 10553 Berlin
Tel. 0162/3322047 oder
herbst@dejavu-gesellschaft.org
 

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