Feldarbeit

Detached – Versuch einer Annäherung

«Stellvertretender Blick» © Christian Heymann

Ein gemeinsames Fotoprojekt

Als Christian Heymann fünfzehn Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Die Mutter zog zu ihrem neuen Partner in eine andere Stadt und war bis auf sporadische Telefonate nicht mehr Teil seines Lebens. Er selbst blieb bei seinem alkoholkranken Vater. Für seine Abschlussarbeit an der University of Europe for Applied Sciences in Hamburg griff Heymann die Entfremdung von der Mutter auf und wagte eine fotografische Wiederannäherung. Wir baten ihn, uns den Entstehungsprozess seiner Serie «Detached» zu schildern und fragten ihn, welche Rolle dabei die Kamera spielte.

Text und Fotos  — Christian Heymann — 21.03.2025

Das erste Treffen im Saarland

Da stand ich plötzlich vor ihr. Nach Jahren der Distanz, die mehr war als nur geografisch. Sie war älter geworden. Aber ihre Bewegungen waren mir noch vertraut. Darunter ihr entenartiger Gang, der aus ihrer Zeit als Balletttänzerin stammte.

Es war mir vorab nicht leicht gefallen, meine Mutter zu fragen, ob sie gemeinsam mit mir an einem Fotoprojekt arbeiten würde. Meine Idee war eine autobiografische Serie, die sich mit unserer Beziehung auseinandersetzt. Mit Hilfe von inszenierter Fotografie wollte ich untersuchen, wie sich Nähe und Distanz in Bildern ausdrücken lassen. Zugleich befürchtete ich, alte Wunden zu öffnen oder sie mit meiner Anfrage zu überfordern.

Zunächst kam ihre Antwort auch nur zögerlich. Dann aber folgte ein überzeugtes «Ja!» Diese Reaktion gab mir Hoffnung und fühlte sich wie ein erster, vorsichtiger Schritt in Richtung einer Annäherung an. Trotzdem ging ich mit gemischten Gefühlen zu unserem ersten Treffen. Einerseits war da die Freude, sie wiederzusehen, andererseits tiefe Unsicherheit. Was, wenn wir wieder aneinander vorbeireden?

«Mit Hilfe von inszenierter Fotografie, wollte ich untersuchen, wie sich Nähe und Distanz in Bildern ausdrücken lassen.» – Christian Heymann

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«Ordentlich» © Christian Heymann

Ein Gefühl der Enge, eine Atmosphäre der Distanz

Wir trafen uns in Püttlingen, einer kleinen Stadt im Saarland, wo sie inzwischen lebt. Ich war zuvor nie dort gewesen, und der Ort irritierte mich sofort. Die Vorgärten mit ihren sorgfältig angeordneten Steingärten und den akkurat gestutzten Hecken waren für mich ein Sinnbild von Spießigkeit und mangelnder Lebendigkeit. Möglicherweise spürte ich in diesem Moment aber auch einfach die Enge, die ich mit unserer Beziehung verband. Vielleicht spiegelte die Strenge der Umgebung mein Gefühl emotionaler Distanz.

Vor unserer ersten gemeinsamen Foto-Session griff ich diese Atmosphäre deshalb bewusst auf. Ich hielt zunächst dokumentarisch die Umgebung fest. Ich wollte ein Gefühl für meine Mutter bekommen, aber auch für den Ort, in dem sie lebt, bevor wir mit der eigentlichen Arbeit begannen. Ich versuchte Bilder zu finden für das unangenehme Schweigen zwischen uns, die Spannungen und die Isolation. Ich verstärkte dieses Gefühl sogar auf den Bildern.

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Oben links: «Verlorene Kindheit», oben rechts: «Abgeschottete Architektur», unten: «Zerrissene Sehnsucht» © Christian Heymann

Perspektivwechsel als Icebreaker

Dann folgte unsere erste Inszenierung: Auf dem ersten Bild hielt ich meine Mutter in meinen Armen, während sie ein Tutu trug, das ich im Vorfeld organisiert hatte. Im zweiten Bild hielt sie mich – dieses Mal trug sie meine Kleidung und ich das Tutu.

Gerade das zweite Motiv war entscheidend. Es ging nicht nur um den Rollentausch, sondern auch darum, dass sie sich in meine Perspektive versetzte – sich vorstellte, wie es für mich gewesen sein muss, sie zu halten. Sie, das kleine Mädchen, das von ihrem Vater verlassen wurde und ihre Zuflucht im Tanz fand. Ich, der nicht mehr bei der Mutter lebte.
Ich wählte dieses Motiv bewusst als erstes, weil es das schwierigste war – emotional wie körperlich. Die direkte Nähe, das gegenseitige Tragen, die Umkehrung der Rollen – all das stellte die zentralen Fragen der Arbeit in verdichteter Form dar: Wer hält hier wen? Wer trägt wen – und warum? Es sollte als Icebreaker dienen, als Barriere, die es zu überwinden galt, damit alles, was folgte, freier sein konnte.

Auch die Wahl des Tutus war kein Zufall. Es steht als Analogie für das grundsätzliche Nachtrauern einer längst vergangenen Zeit – einer Epoche, die für sie noch immer spürbar ist, während sie für die Außenwelt längst verblasst ist.

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Oben: «Geteiltes Empfinden», unten: «Abschied» © Christian Heymann

«Die Kamera war nicht nur ein Werkzeug, sondern eine Vermittlerin, die uns half, unsere Beziehung in einem anderen Licht zu sehen.» – Christian Heymann

Die Kamera als Anker

Interessanterweise wurde die Kamera während der Zusammenarbeit zu unserem Anker. Sie gab uns eine Struktur, eine gemeinsame Aufgabe, die es uns erlaubte, unsere Konflikte nicht direkt benennen zu müssen, sondern sie indirekt verhandeln zu können. Die Kamera schuf eine Distanz, die zugleich eine Nähe zuließ. Sie war nicht nur ein Werkzeug. Sie war eine Vermittlerin, die uns half, unsere Beziehung in einem anderen Licht zu sehen.

Unsere Arbeit erstreckte sich über drei Besuche, die jeweils eine Woche dauerten. Zwischen jeder Session machten wir eine Woche Pause. Diese Struktur – drei Wochen intensiver Arbeit über einen Zeitraum von fünf Wochen – schuf einen Rhythmus, der es uns erlaubte, uns schrittweise anzunähern. Während meiner Besuche wohnte ich nicht bei meiner Mutter, sondern nahm mir ein Zimmer. So hatte ich genügend Raum, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten und den nächsten Tag zu planen.

Die Szenen waren bewusst inszeniert, doch es gab auch Momente, in denen etwas Unvorhergesehenes geschah. Diese spontanen Augenblicke waren für mich besonders wichtig, weil hier eine echte emotionale Bindung spürbar war.

Ein Beispiel für etwas Unvorhergesehenes ist das Bild, in dem meine Mutter eine Plastiktüte über dem Kopf trägt. Ursprünglich hatte ich dieses Motiv als Selbstporträt geplant, doch während ich die Szene vorbereitete, kam mir der Gedanke, wie interessant es wäre, wenn sie sich die Tüte überziehen würde. Draußen regnete es in Strömen – und ich stellte mir vor, dass es noch stärker wirken würde, wenn sie barfuß im Regen stünde. Aber ich traute mich nicht, sie zu fragen.

Kaum hatte ich den Gedanken jedoch zu Ende gesponnen, schlug sie es von sich aus vor. Für einen Moment war ich wie vor den Kopf gestoßen. War es Zufall? Oder hatte sie intuitiv gespürt, worauf ich hinauswollte?

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«Erstickend» © Christian Heymann

Die Umkehr der Rollen

Inhaltlich konzentrierte ich mich vor allem auf die Empathie – das Sich-Hineinversetzen in die andere Person, die Umkehr der Rollen. Unsere Körperhaltungen variierten, blieben aber thematisch passend. Die Balance zwischen Distanz und Nähe war ein zentrales Motiv, ebenso das natürliche Licht, das ich ausschließlich nutzte. Wir trugen unauffällige Kleidung in gedeckten Farben, damit diese nicht von der Inszenierung ablenkten. Der Ort war immer das Zuhause meiner Mutter, das mir zwar fremd war, aber Raum für eine neue Annäherung bot.

Die Fotografien, die entstanden, sind für mich mehr als Abbildungen. Sie zeigen Spannungen und Distanz, aber auch zarte Momente zwischen uns. Sie spiegeln nicht nur unsere Vergangenheit wider, sondern auch die Hoffnung, dass eine andere Zukunft möglich ist.

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«Zwiespalt» © Christian Heymann

«Die Fotografien, die entstanden, sind für mich mehr als Abbildungen. Sie zeigen Spannungen und Distanz, aber auch zarte Momente zwischen uns.» – Christian Heymann

Was autobiografische Fotografie ausmacht

Ich habe seither viel über autobiografische Fotografie nachgedacht. Sie überschreitet die Grenze zwischen dem Persönlichen und dem Privaten, indem sie intime Themen in den öffentlichen Raum bringt. Die entstandenen Bilder reflektieren für mich nicht nur die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir, sondern verhandeln auch universelle Fragen nach Identität, Familie und Erinnerung. 

Die inszenierte Fotografie ermöglichte es mir, Emotionen sichtbar zu machen, die in einer dokumentarischen Herangehensweise oft verborgen bleiben. Indem ich die Bilder wie Bühnen aufbaute, entstand ein kontrollierter, künstlicher Raum, der zugleich Platz schuf für Reflexion und Intimität. Und so bilden die Fotos eine Bandbreite ab, die sich zwischen Realität, Konstruktion und Wahrhaftigkeit bewegt.

Die Diptychen, die als rekursive Elemente wiederkehren, unterstreichen das Performative des Perspektivwechsels. Sie sollen den Betrachter auffordern, die Beziehung aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und sich dadurch mit der Dynamik zwischen uns auseinanderzusetzen.

«Indem ich die Bilder wie Bühnen aufbaute, entstand ein kontrollierter, künstlicher Raum, der zugleich Platz schuf für Reflexion und Intimität.» – Christian Heymann

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Links: «Pas de deux», rechts: «Unvergängliche Vergangenheit» © Christian Heymann 

Wie sich etwas bewegte

Anfangs war die Distanz zwischen uns fast greifbar. Doch im Laufe der Arbeit veränderte sich etwas. Einmal sah ich meine Mutter kurz eine Haltung einnehmen, die an ihre Zeit als Tänzerin erinnerte. Es war ein Moment, in dem ich das Gefühl hatte, sie wirklich zu sehen – jenseits unserer Konflikte. Plötzlich war da die Leichtigkeit der jungen Frau, die ich als Kind kannte.

Dieses Projekt hat vieles bewegt. Es hat gezeigt, dass Verzeihen möglich ist – nicht schnell, nicht einfach, aber mit Arbeit und Geduld. Ohne diese Bilder wären die alten Konflikte wohl weiter eine stille Last geblieben. Durch die gemeinsame Arbeit habe ich gelernt, dass Veränderung machbar ist, wenn man sich dem Schmerz stellt, der sonst oft im Verborgenen bleibt. Und ihn auf seine Weise sichtbar macht.

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«Nie zusammen» (Los Angeles, 1981) © Christian Heymann 

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