Feldarbeit

Filmanfänge im Fangnetz — Eine neue Buchidee bei Edition DEJAVU

Edgar Herbst im Gespräch mit Therese O’Toole — 24.01.2025

Fotos — Edgar Herbst

Redaktion— Claudia Kursawe

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Herrenhand Berlin 2007, Foto: Edgar Herbst

Ein Projekt will ans Licht

Edgar Herbst ist in seinem Leben viel gereist und tut dies noch immer. Allerdings treibt er sich nicht mehr nur in der Welt herum, sondern auch in den Weiten und Sphären seines Archivs. Dabei entdeckte er etwas berauschend Unperfektes: Eine Sammlung analoger Filmanfänge – abgeschnitten, ausgefranst, bloß halb belichtet, doch von besonderer Magie. Was er mit diesen Filmanfängen vorhat und warum er dafür Unterstützung braucht, erzählt er im Gespräch mit Therese O’Toole, «einer Freundin der Kunst», wie er sie nennt.

Therese O‘Toole: Mit deiner Kolumne «Café Herbst oder die Reise zum Amazonas» bist du angetreten, dein immenses Bild- und Erinnerungsarchiv aufzuarbeiten, um daraus ein Buch zu machen. Nun hast du mit mir kürzlich über ein Buchkonzept gesprochen, das auf sogenannten «Filmanfängen» basiert und nicht einfach ein Best-of deiner Gesellschaftsfotografie darstellt. Das ist doch sehr überraschend, denn viele Menschen kennen und schätzen deine spezielle Art der Gesellschaftsfotografie und würden eher ein Buch hierzu erwarten. Wie bist du zu diesem neuen Konzept gekommen?

Edgar Herbst: Seit vielen Jahren fege ich wie eine nervöse Windhose durch meine Materialien aus Zelluloid. Das kommt dem Abschreiten eines obskuren und obszönen Labyrinths gleich, das Wirrsal eines verschlungenen Fotografenlebens. Mittlerweile empfinde ich mein fotografisches Archiv als lüsternes, bedrohliches und gleichsam empfindlich beleidigtes Monsterwesen, das mir mal zuflüstert, mal mich anbrüllt: «Kreiere etwas aus mir, lasse mich nicht in der Bedeutungslosigkeit verenden, ich bin der Schatz deines Gestern.»

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Parisbar Berlin, 1999, Foto: Edgar Herbst

Phänomenale Entdeckung

Meine Aufmerksamkeit fiel bei der Erforschung auf etwas bis dahin Unbeachtetes, scheinbar Geringfügiges, doch irgendwie auch Phänomenales. Ich entdeckte jene Negative, die am Anfang des Kleinbildfilmes eine Art Vorspann bilden und auf denen Motive zu sehen sind, die – bedingt durch den Lichteinfall beim Einlegen des Films, nur die Hälfte, ein Viertel oder ein Achtel des Abgebildeten zeigen. So begann ich in Bergen von Negativhüllen nach Filmanfängen zu jagen und wilderte im schon Bekannten nach dem Unbekannten. Diese Suche wurde zur Obsession, im Fangnetz habe ich nun eine ganze Sammlung von farbenprächtigen und schwarz-weißen Schmetterlingen, die es genau zu betrachten gilt.

« So begann ich in Bergen von Negativhüllen nach Filmanfängen zu jagen und wilderte im schon Bekannten nach dem Unbekannten.» – Edgar Herbst

Was genau ist ein Filmanfang?

Diese völlig willkürlichen Filmanfänge kommen dann zu Tage, wenn man beim Einlegen des analogen Kleinbildfilmes nicht unbedingt auf den Bildnummernanzeiger des Apparates schaut und schon bei Bild Null oder gar bei Bild minus Null anfängt, auf den Auslöser zu drücken. Königlich verschwenderisch spulte ich den Film manchmal auch so weit vor, dass dieser erst bei Bild 4 oder 5 belichtet wurde. Das ist meistens ein eiliger Vorgang, allerdings nebenbei, ohne bewussten Blick durch den Sucher.

Die Motive zeigen in einer besonderen Andersartigkeit die Lichteinfallkante. In Schwarz-Weiß gebärt sie sich
als bildfressender Wolkenschleier. In Farbe prägt sie ihr goldgelb-rot-feuerbrünstiges Siegel auf das Motiv, brennt sich in die Szenerie und durchwebt die abgebildeten Charaktere, Landschaften oder Objekte mit ihrem Zauber.

Dass man diese Bilder eigentlich nie sieht, liegt daran, dass sie in der Fotografie-Technik oft als unbrauchbar betrachtet werden, manche Labore schneiden diese ungeliebten Zufallsbilder häufig weg. Und in der Digitalfotografie gibt es sie natürlich überhaupt nicht mehr. Sie sind sozusagen vom Aussterben bedroht – Fossilien einer Zeit.

«Die Motive zeigen in einer besonderen Andersartigkeit die Lichteinfallkante. In Schwarz-Weiß gebärt sie sich
als bildfressender Wolkenschleier. In Farbe prägt sie ihr goldgelb-rot-feuerbrünstiges Siegel auf das Motiv.» – Edgar Herbst

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Von oben links nach unten rechts: Holztisch in der Nacht Berlin 2008, Städelstudentin Frankfurt 1992, Adelsschwestern Berlin 2012, Silvester Chaussestrasse Berlin 2006, Fotos: Edgar Herbst

Eine Expedition
ins Unperfekte,
in die Unschärfe,
den Kontrollverlust

Was hast du in den Bildern gesehen, als du sie entdeckt hast?

Es war eine Expedition ins Unperfekte. Die Filmanfänge folgen in ihrer Unkontrollierbarkeit weder Vernunft noch Prinzip. Ihnen wohnt vielmehr ein eigenständiger Makel inne, nahezu grandios aus Geisterhand komponiert.

Dabei kam mir der Gedanke, dass sich meine eigene Fotografengeschichte genau so abbildet. Sie ist poetisch, sinnlich, surreal, unperfekt. So wollte ich sie eigentlich immer erzählen. Auch die unscharfen Bilder weiß ich dabei zu schätzen. Die Unschärfe ist für mich die visuelle Schwester des Rausches.

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Chinesin Tsingtao, 2014, Foto: Edgar Herbst

«Die Filmanfänge folgen in ihrer Unkontrollierbarkeit
weder Vernunft noch Prinzip. Ihnen wohnt vielmehr ein eigenständiger Makel inne, nahezu grandios aus Geisterhand komponiert.» – Edgar Herbst

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Weißer Hund Karlsbad 2004, Foto: Edgar Herbst
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Grüne Hölle Berlin, 2013, Foto: Edgar Herbst
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Grande Dame vom Preussischen Königshaus Burg Hohenzollern 2007, Foto: Edgar Herbst

Der Lichteinfall dirigiert das Geschehen

Eigentlich ist oder war der Kontrollverlust genau dein Thema. Als Gesellschaftsfotograf hast du Momente der Entgleisung, der Berauschtheit und der ehrlichen Emotion aufgespürt. Bei den Filmanfängen hattest du nie die Kontrolle. Sind diese für dich eine neue Art von Kontrollverlust?

Absolut, der Kontrollverlust im Kontrollverlust sozusagen. Welch ein großes inneres und äußeres Vergnügen oder gar welch eine Erfüllung. Der Lichteinfall dirigiert das Geschehen und spielt den Henker von Köpfen, verwandelt Baumstämme zu abstrakten Fantasiegebilden und lässt Tanzszenen wild verschwimmen.

Aber – und das Wort Kontrollverlust ist ein Großes – reflektiert jener selbstverständlich auch meine eigene angenehme Widersprüchlichkeit. Kontrolle zu haben oder zu verlieren, war für mich immer eine Grenzerfahrung, wohl auch eine Motivation des inneren Protests. Ich musste bei der Beobachtung der Menschengesellschaft immer vorsichtig und aufmerksam bleiben. Gleichsam war es notwendig, Teil vom wilden Treiben auf dem Parkett zu sein und die Kontrolle abzugeben. Und das musste man mir, dem trunkenheitsoffenbarenden Exhibitionisten nicht zweimal sagen.

Die Filmanfänge verbinden, da sie eine Konstante sind, alle Phasen deines Wirkens und werden zu gleichberechtigten Zeitdokumenten. Die Beschäftigung damit ist auch eine Verneigung vor dem anlogen Prozess. Was bedeutet es für dich, daraus eine Buch Idee entstehen zu lassen?

Es kommt einem romantischen Abenteuer nah, dem eigentlich Unbeachteten zu begegnen und es dann in einem feinen Buch gebunden zu sehen, in dem meine persönlichen Erfahrungen von Traum, Seele und Melancholie mit Hilfe der Filmanfänge wahrnehmbar werden. Es möge ein Spiel werden, ein fantastischer Vulkan, der eigenartige Bilder und Buchstaben ausspuckt.

Und jetzt kann ich meinem Archivmonster zurufen: «Ruhig Blut, du Ungeheuer, ich mache etwas sehr Besonderes aus dir.»

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Lackschuh auf Teppich Hamburg, 1998, Foto: Edgar Herbst

«Ruhig Blut, du Ungeheuer, ich mache etwas sehr Besonderes aus dir.» – Edgar Herbst

Zugeneigte Paten zur Unterstützung gesucht!

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Das Buch «Filmanfänge im Fangnetz» von Edgar Herbst, gestaltet von Hanna Williamson, soll im Herbst 2026 bei Edition DEJAVU erscheinen.

Was braucht ReVue, was brauchst du, um das Buchkonzept Wirklichkeit werden zu lassen?

Wir leben in Zeiten der visuellen Eskalation, die eine explosiv anmutende Epoche futuristischer Ungewissheit in sich trägt. Das erste eigene «Herbstbuch» möge dem Einhalt gebieten, dem Betrachter Stille verordnen und den analogen, scheinbar fehlerhaften Prozess huldigen, ihn gar verehren.

Daher gilt es für uns nach zugeneigten Paten für dieses Projekt Ausschau zu halten und liebevoll, aber auch entschlossen, verführerisch zu trommeln: Die Dejavu-Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V braucht Eure pekuniäre Unterstützung – etwas deutlicher: Euer Geld, um die Idee zu echten «Herbstlaubblättern» zu transformieren.

In prickelnder Vorfreude auf das Projekt danke ich meiner lieben Freundin der Kunst, Therese O‘Toole für die fachlich indiskreten Fragen.

Der Pfad zum Brunnen, der nach Talern lechzt: Bitte spenden Sie hier, um dieses Buch Wirklichkeit werden zu lassen.

«Die Dejavu-Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. braucht Eure pekuniäre Unterstützung – etwas deutlicher: Euer Geld, um die Idee zu echten ‹Herbstlaubblättern› zu transformieren.» – Edgar Herbst

Edgar Herbst
Edgar Herbst ist Fotograf und Künstler. Wie er seinen Lebensweg beschreibt? «1961 nach wilder bis halsbrecherischer Slalomfahrt im Mutterleib, hochsommerliche Ankunft in der blass colorierten schwarz-weiß Kulisse des Kurortes Bad Lauterberg. Zuckerbäckerei, Pferdeherden, Wasser- und Schneeathleten, inmitten des Harzgebirges untermalt von Hexentanz und Geistersymphonien. Erste Selbstwahrnehmung lebendigen Seins auf dem Internat Schloss Varenholz. Metropolenberührung in Frankfurt am Main, Erforschung der Großstadt mit hungrigen Augen im zwielichtigen Areal. Entdeckung der Liebe zur fotografischen Aufzeichnung. Hingabevolles Wirken in der medialen Magazinwelt, brodelndes Labor, psychedelische Wirkstoffe und Feuerwasser fördern die Sehformel in rauschhaften Prozessen. Hamburg - Festung der bedruckten Blätter; zum Exzess beauftragt und diesen verinnerlicht. Flucht zum Ich - Berlin! Schmerz, Rausch, Schöpfen in Erschöpfung; gefühlt Ober- und Unterkante Universum, Abstinenz statt Absinth. Belebung des Innen und Außen –  im Beiboot des Dampfers: die unvermeidliche Selbstironie des Lebens und Sterbens. Waghalsiger Plan, der Liebe einen Sockel zu kreieren – immer mit nervösem Charakter friedlicher Manie.»
Therese O’Toole
Therese O’Toole ist studierte Philosophin und Filmwissenschaftlerin. Derzeit lebt und arbeitet sie in Rom.

 

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Herausgeberin

DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. 
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin

ReVue ISSN2750–7238

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