Text — Red
Fotos — Jana Romanova
Das Photo- und Ausstellungsprojekt «Adopted Welsh» von Jana Romanova
Die russische Fotografin Romanowa experimentiert in ihrer Fotoserie «Adopted Welsh» mit ihrer eigenen Identität, indem sie versucht, walisisch zu werden. Auf ihrer Reise durch Wales, jenem Land im Südwesten Großbritanniens, das im Mittelalter seine Unabhängigkeit an das Vereinigte Königreich verloren hat, befragt sie die Einheimischen, was typisch walisisch sei. In ihren Fotos befolgt sie deren Ratschläge, indem sie sich in den Tableaus selbst mit in Szene setzt.
«Als Russin und Ausländerin in Wales sprach ich mit verschiedenen Menschen, die sich als Waliser betrachten, und bat sie zu beschreiben, was die 'walisische Identität' umfasst», erzählt die Fotografin. Romanowas letzte Frage an das Gegenüber war, ob auch sie eine von ihnen werden könne.
Von den rund 50 Interviewten beschied ihr nur einer eine negative Antwort. Alle anderen gaben ihr unterschiedliche Empfehlungen: Und so schloss sie sich lokalen Gruppen und Gemeinschaften an, ging in die Kirche, nahm an einem historischen Reenactment-Verein teil und verbrachte Zeit mit einer walisischen Familie. Dann setzte sie in den Fotografien die Rolle um, die man ihr empfohlen hatte.
Plötzlich begann ihre Identität als Russin eine Rolle zu spielen.
Diese Vorgehensweise brachte viele überraschende Ergebnisse. Das wichtigste: Ihre eigene Identität als Russin begann für Romanowa eine bedeutende Rolle zu spielen. Beispielsweise wurde sie gebeten, für einen walisischen Chor alte russische Texte zu lesen, obwohl sie kein Altrussisch konnte. Oder sie wurde gezwungen, mit unbedecktem Kopf in einer Kirche zu sitzen, was ihrer orthodoxen Erziehung widerspricht. Es gab viele Situationen, die in ihrer Gesamtheit die Fragen nach der Identität sowohl einer Gemeinschaft als auch einer einzelnen Person verdeutlichen.
«Das Fremde ermöglicht es uns erst, die Bindung an unseren Kreis zu spüren.» — Jana Romanova
Romanowa hat sich schon immer dafür interessiert, welche Mechanismen und Voraussetzungen identitätsstiftend wirken, vor allem in Ländern, in denen die Frage der nationalen Identität in den letzten Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit erhalten hat. In ihrem eigenen Land hat dies dazu geführt, dass die Menschen ihre politischen Positionen überdenken, was zu zahlreichen Konflikten, manchmal sogar innerhalb der Familien führt. «Einige Menschen, die diese neue Entwicklung nicht akzeptieren, versuchen, in andere Länder und zu anderen kollektiven Identitäten auszuwandern, in denen sie akzeptiert werden. Auf der anderen Seite gibt es viele, die begonnen haben, sich als stolze Russen zu betrachten», sagt die russische Fotografin.
Die Fotografien sind die Resultate des Experiments.
Romanowa erklärt, in Claire Denis' Kurzfilm «Vers Nancy» weise der französische Philosoph Jean-Luc Nancy darauf hin, dass die Existenz des Anderen – des Fremden – als Voraussetzung für die eigene Gruppenidentität angesehen werden könne. Erst das Fremde ermögliche es uns, die Bindung an unseren Kreis zu spüren. So stärke die Begegnung mit einem Fremden die Identität der Gemeinschaft, unser Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen: «Die Fotografien aus der Serie «Adopted Welsh» als Resultate des Experiments erzählen in einer Weise etwas über mein Russischsein, das in Russland nicht auffallen würde, und spiegeln gleichzeitig die Art und Weise wider, wie eine Gesellschaft in jedem Land sich selbst als Identität denkt und wie sie Fremde akzeptiert oder ablehnt».
Adopted Welsh umfasst Fotografien als auch eine Reihe von Videoarbeiten (red.).
«Jeder hier ist ein Rugby-Fan, du hast gerade ein großes Spiel verpasst, aber es werden noch mehr kommen, schließe dich der Fangemeinde an, du wirst sehen, wie viele Leute hier auf Rugby stehen, es ist ein Nationalsport.»
«Ein echter Waliser ist ein Rugby-Fan. Hier ändert sich alles, wenn die walisische Mannschaft spielt, es ist wie eine riesige Feier, wie die größte Party, die man sich vorstellen kann, jeder schaut es sich an, entweder im Fernsehen oder im Stadion, die Bars sind voll. Rugby ist also etwas sehr Walisisches. Ich würde vorschlagen, ein Fan oder – noch besser – eine Spielerin zu werden. Ja, Sie sollten auf jeden Fall versuchen, Rugby zu spielen!»
«Um Waliser zu werden, sollte man die walisische Geschichte wirklich verinnerlichen, sie kennen und respektieren.»
«Wir sind ein singendes Volk. Um wirklich Teil der Gemeinschaft zu werden, sollten Sie unbedingt in einem echten walisischen Chor singen, am besten einem, der nur aus Walisern besteht. Ich meine walisische Muttersprachler.»
«Es gibt diese Straße hier in Cardiff, wo man echte Waliser sehen kann, all diese Frauen in unglaublichen Kleidern und Stöckelschuhen, trinkend, und kämpfende Männer. Das passiert jedes Wochenende, da sollten Sie hingehen, um das echt Walisische zu verstehen... Ich gehe da nie hin.»
«Wir sind so froh, dass Sie heute zu uns kommen! Wir haben einen besonderen Festgottesdienst gemacht und bitten heute viele Gäste aus anderen Konfessionen zu unserem Gottesdienst. Da viele von ihnen kein Walisisch sprechen, werde ich ihn teils auf Englisch, teils auf Walisisch halten, ist das für Sie in Ordnung? Wir haben auch einige spezielle Hefte mit Gebeten gedruckt, auf der Rückseite stehen einige Informationen über Sie.»
- «Hallo! Erkennst du uns nicht? Wir haben uns gestern im Zug von Cardiff nach Bristol getroffen. Erinnerst Du Dich nicht? Nein, das warst eindeutig Du! Ich bin mir sicher!»
Jana Romanova
1984 in Russland geboren, erwirbt ihren Abschluss in „Journalismus“ an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. Sie macht ihre Studienobjekte zu Mitarbeitern, nutzt verschiedene Methoden der partizipativen Kunst und fordert sich selbst mit Experimenten heraus, mittels derer sie versucht, Teil verschiedener Gemeinschaften zu werden, ihre eigene Identität zu hinterfragen und verschiedene Rollen zu erforschen, die die Fotografie in unserer Gesellschaft spielt. Derzeit lebt sie zwischen Sankt Petersburg, Russland, und Den Haag, Niederlande.
janaromanova.com
instagram.com/janarom
medium.com/@janaromanova
Weiterlesen
Mehr ReVue
passieren lassen?
Der ReVue Newsletter erscheint einmal im Monat. Immer dann, wenn ein neuer Artikel online geht. Hier en passant abonnieren.
Sie möchten unsere Arbeit
mit einer Spende unterstützen?
Hier en passant spenden!
Fotografie ist allgegenwärtig, wird aber in den journalistischen Medien noch wenig hinterfragt oder erklärt. Wer an Journalismus denkt, denkt an Texte. Das digitale Magazin ReVue verfolgt einen anderen Ansatz: Es nähert sich den Themen vom Bild her. In unseren Beiträgen untersuchen wir die Rolle und Funktion von Bildern im Verhältnis zum Text, zur Wahrheit, zum politischen oder historischen Kontext. Wie nehmen wir Bilder wahr? Welche Geschichte steckt dahinter?
Unsere Beiträge erscheinen auf Deutsch, wir übersetzen aber auch fremdsprachige Texte und erleichtern so den Wissenstransfer zu einer deutschsprachigen Leserschaft.
ReVue ist unabhängig. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich. ReVue ist ein Projekt der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.
Herausgeberin
DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V.
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin
ReVue ISSN2750–7238
ReVue wird unterstützt von