Text — Justine Masché Portraits — Edgar Herbst
Ich habe Frau Jänisch-Strempler einige Male im Laufe meiner Recherchen getroffen. Wir haben uns zufällig über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt, der im gleichen Haus wie sie in Berlin wohnte. Frau Jänisch-Strempler ist eine sehr aufgeschlossene, äußerst adrette Dame in ihren Siebzigern, die durch ihre Selbstständigkeit und ihren Witz auffällt. Wenn Sie sich in ihre Lieblingskleider hüllt, erscheint Sie stets richtig gekleidet. Sie versteht sich darin, durch kleine Akzente jedes Outfit zum Hingucker zu machen, achtet bei ihrer Garderobe auf gute Qualität und Langlebigkeit, und schwört auf gute Manieren. Ihre Wohnung riecht für mich nach Zigarillos, Kaffee und verruchter Eleganz.
Wir durchstöbern das Familienalbum. Die alten Fotoaufnahmen sind fein säuberlich auf gelben Karton fixiert und mit wenigen Worten beschrieben. Die gelben A4-Kartons stecken in transparenten Hüllen.
Es ist so schön, wenn sich jemand noch die Mühe macht, die alten Aufnahmen zu sortieren und aufzukleben.
Die waren alle mal in Tüten ganz ungeordnet. Und irgendwann habe ich mir dann mal die Mühe gemacht sie zu sortieren.
Sie erzählt Bild für Bild.
Frau Jänisch-Strempler (JS): Das hier ist bei meiner Taufe. Ich bin erst mit 12 getauft worden, in Schwarz. Der Mantel ist ein altes, umgearbeitetes Kleidungsstück meiner Schwester. In diesem Jahr ist meine Großmutter gestorben, deswegen ist meine Mutter auch in Schwarz gekleidet. Das muss Anfang der 50er Jahre sein. Meine Mutter trug dieses Kleid auch schon nach der Beerdigung des Großvaters in den 1930er Jahren.
Justine Masché (JM): Das war damals noch gang und gäbe, dass man über einen längeren Zeitraum Schwarz trägt, richtig?
JS: Diese Aufnahme muss so ein halbes Jahr später gemacht worden sein. Später hat meine Mutter immer nur Schwarz-Weiß getragen. Das Kleid, das ich hier trage, war ein geerbtes Kleid, das für mich umgearbeitet worden ist. Das hat immer jemand privat gemacht, eine Schneiderin, die meine Mutter schon vor dem Krieg kannte.
JM: Sie hatten auch immer so eine hübsche Tolle!
JS: Naja, meine Haare drehten sich immer so, dann hat meine Mutter sie über die Finger gerollt und auf dem Kopf festgesteckt. Später steckte dann ein Kamm darin. Ich mochte diese Rolle nie. Die Haare vorne standen immer hoch, das war so nervig!
Den Pullover, den mein Sohn hier trägt, hat mir eine Freundin geschickt, und als er ihm zu klein wurde, habe ich ihn aufgetrennt und etwas Neues daraus gestrickt.
Auf diesem Bild trage ich eine Bolerojacke, die Teil war von einem Strandkleid. Damals war es üblich, dass man einen Rock trug, darunter eine kurze Hose, und einen passenden Bolero aus dem gleichen Material. Da war die Landkarte Deutschlands drauf – ganz Deutschlands!
Lacht.
Meine Mutter und meine Schwester hatten übrigens das gleiche Ensemble, nur in anderem Muster. Bei meiner Mutter war der Stoff aus Kräuselkrepp und bei mir ganz glatt. Darunter wurde eine Corsage getragen mit Gummizug, das weiß ich noch genau. Und hier sehen Sie das Outfit wieder, das war allerdings etwas später. Aus dem Rock ist eine Bluse gemacht worden für mich, denn wenn etwas nicht mehr passte, wurde etwas anderes daraus gemacht! Das war bei vielen Sachen der Fall.
Das ist auch ein Rock, der mir nicht mehr passte. Deshalb wurden einfach breite Streifen dazwischengesetzt. Dieser Rock war ursprünglich ein Kleid, in dem ich mit 1,5 Jahren Laufen gelernt habe. Auf diesem Foto bin ich wahrscheinlich 11 Jahre alt.
Das hier war ein Rock und eine Jacke, die früher meiner Schwester gehörten und dann auch mich abgeändert wurden. Das fand ich gar nicht schön! Meine Mäntel und Jacken hat immer meine Schwester vor mir getragen.
JM: Weil Sie einen anderen Geschmack hatten als ihre Schwester?
JS: Darüber habe ich mir damals gar keine Gedanken gemacht. Das was man kriegte, wurde angezogen. Meine Mutter hatte teilweise noch Sachen von ihrer Mutter. Ich finde es gut, wenn Sachen umgearbeitet werden. Heute entsorgt man alles einfach nur noch.
Das hier war meine Konfirmation. Das war ein geerbtes Kleid, das schon zwei Kinder vor mir zur Konfirmation trugen. Für diese offiziellen Bilder ging man damals noch zum Fotografen.
Damals war Perlon total angesagt. Das Kleid hier hatte blaue Tupfen darin und darunter trug man einen Unterrock, weil es ja sonst nicht durchsichtig war.
JM: Waren Sie bei den Jungen ein begehrtes Mädchen?
JS: Ich war immer sehr störrisch, also eher weniger. Bis zur 8. Klasse habe ich mich mit den Jungen aus meiner Klasse sogar gehauen. Ich wollte kein Mädchen sein, ich wollte Junge sein und Hosen tragen. Aber ich musste immer Röcke tragen.
Wir machen eine kleine Tour durch ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung.
JS: Meine Möbel stammen noch von meinen Großeltern. Und der Bezugsstoff von diesem Sofa ist aus Ziegenhaar. Den hat mein Großvater für die Großmutter meiner Mutter bauen lassen. Die alten Sessel sind, was das Sitzen betrifft, auch noch besser gearbeitet. Sowas gibt’s heute nicht mehr. Ich finde auch, dass man solche Arbeit nicht weggeben darf und in Ehren halten muss. Nach ’61 waren wir noch im Osten, aber ich bin im Westen zur Schule gegangen. Alle Kinder, die im Ostteil in der Schule nicht angenommen wurden, mussten das so machen. Zu dieser Zeit haben wir eine Untermieterin bei uns wohnen lassen, die hatte allerdings keine eigenen Möbel. Deshalb hatte sie einen dieser Sessel bei sich. Fragen sie mich nicht warum, aber sie hat diesen Sessel mit einem Messer zerschlitzt!
Wir laufen den Gang ihrer Wohnung entlang. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen ihres Sohnes und alte Familienfotos.
JM: Sie haben wirklich viele mit Erinnerung aufgeladene Dinge aufbewahrt.
JS: Ich habe noch einen Reiseführer von Ostberlin aus der DDR- Zeit, da ist Westberlin nur eine weiße Fläche – keine Straßenführung, nichts.
JM: Hatten Sie Freundinnen unter ihren Klassenkameradinnen?
Ich musste im Sportunterricht immer Hilfestellung geben. Dann musste ich am Bock stehen und irgendetwas mit den Anderen üben. Und dann hab’ ich meine Sportlehrerin gefragt, warum ich immer der Dicken helfen soll. ‚Ich krieg’ ne 6 und die nicht!’ Und da hat meine Sportlehrerin gesagt: ‚Die gibt sich wenigstens Mühe, aber du weigerst Dich ja einfach.’
Das hier ist 1961, sehen Sie, die spitzen Schuhe. Die Fotos sind in diesem Haus oben auf dem Dach entstanden. Im Hintergrund kann man das Delphi Theater sehen. Da habe ich hier schon halb gewohnt, teils draußen in Woltersdorf und teils hier in Charlottenburg – ich bin gependelt zwischen Ost und West. Ich schätze, die Bilder hat meine Schwester gemacht.
1961 habe ich mir auch die Haare kurz schneiden lassen. Diese Bilder hier wurden von einem professionellen Fotografen gemacht. Dieses Oberteil hat mein Vater mir geschenkt. Das war Cord. Und der Pullover, den ich darunter trage, ist aus Boucléwolle. Der Trenchcoat, den ich dazu trage, war aus Nylon. Nylonmäntel waren damals ganz in, die konnte man ganz klein verpacken. Ein Trenchcoat ist ja auch eine zeitlose Form und geht eigentlich immer.
JM: Ja, das stimme ich Ihnen zu!
JS: Das hier war 1963. Zwei Tage bevor wir abgeholt wurden. Die haben meine Mutter und mich abgeholt wegen versuchter Republikflucht. Wir waren aber gar nicht dabei bei dem Versuch, wir hätten damals zur Autobahn fahren müssen, um mitzukommen. Aber meine Mutter war so aufgeregt und hatte Herzschmerzen. Ich hätte ja schon viel früher gehen können, aber wollte meine Mutter nicht allein im Osten lassen.
JM: Was wären Sie geworden, wenn sie ganz frei hätten entscheiden können, wie Sie ihr Leben gestalten wollen?
Sie denkt kurz nach, bevor Sie knapp antwortet.
JS: Ich weiß es gar nicht. Ich kann mich eigentlich nicht groß beschweren.
JS: Das hier waren sogenannte Kutten, amerikanische Kutten- also Militärmäntel. Die besten waren die, die ein Einschussloch hatten aus dem Krieg. Ich habe zu dieser Zeit ja nur Kutten getragen!
JM: Ist das nicht total makaber? Das heißt ja, dass darin jemand erschossen wurde.
JS: Ach nee, das waren ja nur so Streifschüsse oder weiß der Kuckuck was!
JM: Ist das hier ihr Freund?
JS: Ach naja, wir hatten mal was, aber wir kannten uns eigentlich nur so. Mit dem hab’ ich Abi gemacht. Der hat immer fotografiert. Aber eigentlich waren wir nicht wirklich befreundet. Wir haben nur immer was zusammen gemacht, weil wir uns halt so kannten. Wir waren beispielsweise einmal in der Humboldt-Uni und da stand ja, wenn man reinkam, so eine große Karl-Marx-Statue. Da konnte ich es mir nicht verkneifen, dort hoch zu klettern und dem Marx am Bart zu krabbeln – und der Freund hat’s fotografiert!
Lacht herzlich und laut.
Zum Glück hat uns niemand gesehen! Das wäre ganz übel ausgegangen. Wahrscheinlich wären wir exmatrikuliert worden!
Heute gibt es ja nicht mehr diese Einschränkungen und starken politischen Restriktionen wie zu Ost-West-Zeiten. Da sind der Reiz und Nervenkitzel nicht mehr so groß, sich durch solche kleinen Taten gegen das System zu wehren.
Er hatte sich damals selber einen Pullover gestrickt und da war der Brandenburger Adler drauf. Werner war in dieser Beziehung sehr geschickt. Zum 1. Mai mussten wir damals immer zum Demonstrieren – also ich war nur ein Mal mit, dann nie wieder. Eigentlich sollte man dazu im FDJ-Hemd erscheinen. Aber mein Freund hat den Pullover mit dem Adler angehabt! Der war auch nicht so ostkonform.
Immer wenn mein Vater mir Kleidung aus Heide geschickt hat, dann wurden die Sachen angezogen und zum Beweis, dass man es trug, fotografiert und zugeschickt. Meine Mutter musste dann fotografieren auf unserer Terrasse. Wenn Sie so Fotos sehen, auf denen posiert wird, dann sind das meist Fotos für meinen Vater.
Das hier waren meine schwulen Freunde. Ich hatte seit ich 18 war schwule Freunde. Ich war immer das Alibi für die Betriebsfeiern, da war ich immer dabei. Und wenn die Kollegen gefragt haben, wann wir denn endlich heiraten, habe ich immer gesagt «Ach, das hat noch ein bisschen Zeit.» Heute sind die beiden nicht mehr zusammen.
Hier bin ich 37, mit geflochtenen Zöpfen. Und dieses Häkeloberteil liebe ich! Das ziehe ich auch heute noch an. So etwas kommt nicht aus der Mode. Da hat mich in der S-Bahn mal eine Frau angesprochen: «Sagen Sie mal, würden Sie das verkaufen?» «Nee!» Hab ich gesagt. «Kriegt man das denn irgendwo?» Aber das war ja selbstgemacht von einer Freundin. Mich haben auch schon welche wegen meiner Strümpfe auf der Straße angesprochen, Studentinnen und junge Leute.
Früher hatte man ja eine Naht hinten auf den Strümpfen.
Ja, so welche habe ich auch noch. Da kann man sagen: «Guck mal, der treibt Innenpolitik oder Außenpolitik!», wenn die Nähte nicht richtig saßen! Und heute gibt es solche Strümpfe teilweise wieder. Das war ja dazu gedacht, damit das Bein optisch unterteilt wird und schmaler erscheint. Wer dicke Waden hatte, hat sowas bevorzugt. Ich zeig’ Ihnen mal meine! Die sind sogar von Yves Saint Laurent, seh’ ich gerade. Sehen Sie, wie die gearbeitet sind! Die Wade ist von der Form ausgearbeitet. Eine Kollegin kam mal mit dergleichen Strumpfhosen zur Arbeit, aber die hatte dickere Waden als ich!
Lacht.
JM: Finden Sie es nicht erstaunlich, dass Sie sich noch an die ganzen Farben auf den Schwarz-Weiß-Fotos erinnern können?
JS: Das liegt wohl daran, dass ich die Sachen so lange getragen habe. Die waren immer so groß geschnitten, dass sie lange passten.
Ich muss gestehen, dass ich immer ein wenig den alten Moden nachtrauere. Natürlich ist es gut und praktisch, dass manche Moden sich gewandelt haben und man sich nicht mehr in enge Vorsagen zwängen muss. Aber rein optisch macht das natürlich viel her.
Ich weiß noch, ich hatte ein Kleid in einem intensiven Sonnengelb. Das Oberteil wurde auf eine Corsage gearbeitet und hatte im Rücken einen Reißverschluss. Der Rock war weit. In den 50ern kam man wieder auf Corsagen – da war ich 17 Jahre alt. Allerdings waren diese Corsagen nicht geschnürt, sondern mit Häkchenverschluss. Sonnengelb war die Lieblingsfarbe meiner Mutter. Sie hatte auch noch so ein Kleid aus unterbrochener weißer Spitze und darunter wurde ein gelber Unterrock getragen, den man durch die kleinen Löcher gesehen hat. Ich hatte auch so ein schönes, weißes Kleid mit treppenartig abgestuften Volants, die immer länger wurden. Das habe ich geliebt. Aber Weiß war nie meine Farbe, weil man darin nicht spielen und dreckig werden durfte.
Manchmal denke ich, ich bin nie erwachsen geworden. Wäre es heute warm gewesen, hätte ich bestimmt auch einen kurzen Rock getragen.
JM: Haben Sie die Kleidungsstücke aus dieser Zeit noch?
JS: Eigentlich nicht. Aber ich habe noch zwei Pullover, die ich meinem Sohn gestrickt habe. Ach, das war vielleicht eine Arbeit! Ich habe ihm zuerst einen gestrickt mit Benjamin Blümchen drauf und dann wollte ich meinem Patenkind noch einen stricken mit einem Hasen. Als der dann fertig war, hat mein Sohn aber Ärger gemacht, weil er nicht wollte, dass ich den zweiten weggebe. Er wollte beide Pullover für sich haben! Die kann ich Ihnen gerne zeigen. Ich finde es faszinierend, dass ich das geschafft habe.
Haben Sie einen Geruch, an den Sie sich gerne erinnern oder der Erinnerungen in Ihnen wachruft?
Also, ich weiß nur, dass ich Gerüche oft als unangenehm empfinde. Vor allem Duftstoffe, die süßlich sind. Ich trage ja nur Herrenduft – ich habe zwei Parfüms. Das eine ist Givenchy Gentleman. Es gibt ja den Spruch, man könne jemanden nicht riechen. Interessant ist, dass mein Mann, meine Mutter, mein Sohn und ich diesen Duft gut tragen können. Nur bei meiner Schwester hat er gemein gestunken. Das ist ganz eigenartig.
Haben Sie eine Kleidergeschichte, die Sie gerne teilen möchten oder würden Sie gerne von ihrer Erinnerung an ein besonderes Kleidungsstück berichten? Justine Masché freut sich über Ihre Kontaktaufnahme über redaktion@re-vue.org.
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