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Grenzerfahrungen

Okuninka ist ein beliebter Ferienort im Dreiländereck Polen-Belarus-Ukraine. Der Partybereich ist verlassen, die Plastikpalme geknickt. Nachts bewachen Soldaten den Ort. (Foto: Ludwig Nikulski)

In den Nachbarländern der Ukraine ist der Krieg nah und doch meist unsichtbar.

Bei Palmen denken wohl die meisten Menschen an die Südsee, an Urlaub und Entspannung. Entlang der ukrainischen Grenzen erwartet man den Tropenbaum eher nicht. Doch auch dort hat der deutsche Fotograf Ludwig Nikulski ihn gefunden. In seiner Arbeit «Pod Palmami – unter den Palmen» geht er fotografierend und schreibend der Frage nach, ob und wie sich die Anwesenheit des russischen Angriffskrieges in seiner Abwesenheit bemerkbar macht. 

Einleitung — Miriam Zlobinski — 18.10.2024 

Gedichte und Fotos — Ludwig Nikulski

Ruhe liegt in den Bildern von Ludwig Nikulski, eine Romantik der Neuzeit, in der ein abwesender Krieg präsent bleibt oder ein präsenter Krieg abwesend ist. Das Projekt «Pod Palmami – unter den Palmen» ist eine fotografische Erkundung der westlichen Außengrenzen der Ukraine.

Das Leben in den Grenzregionen begleitet eine abstrakte Gemütslage aus Ängsten, Alltag und Veränderung, die der Fotograf in Tagebucheinträgen und Gedichten versucht zu erfassen. Grenzerfahrungen liegen in seiner Arbeit weniger im geografischen Raum, als vielmehr in den leisen Anpassungen. Die Menschen reagieren und integrieren die Auswirkungen des Krieges in ihren Alltag.

Die Fotografien entstanden zwischen 2022 und 2024 mit einer analogen Großformatkamera in den Ländern Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Moldawien sowie im russischen Separatistenstaat Transnistrien und der autonomen Region Gagausien. Lokale Situationen ebenso wie zeitliche Aspekte spiegeln eine vielfältige Beziehung zum Krieg.

2022 wird Ludwig Nikulski am Länderdreieck Polen-Belarus-Ukraine von der Grenzpolizei aufgegriffen, da er sich in einer «Gefahrenzone» befindet. In Ungarn notiert er sich 2024: «Zweihundert Meter weiter, hinter der Grenze, herrscht Kriegsrecht. Hier bekommt man nichts davon mit.» 

 

Das Phänomen der Grenze

In die Betrachtung der Grenzregionen mischen sich unmittelbar Gedankenfetzen über das Phänomen der Grenze. Natürliche Grenzen zeigen sich etwa in Form großer Flussläufe oder in Gebirgen von statischer Größe und wirken auf den ersten Blick unüberwindbar. Zugleich sind es vielmehr die von Menschen gezogenen Grenzen, die je nach politischer Lage als überwindbar oder unüberwindbar erscheinen.

Hinter und vor einer physischen Grenze liegen Landschaften, leben Menschen, ändert sich langsam ein Sprachraum, gelten andere Gesetze, werden die Bewohner von Landstrichen zu einer Schicksalsgemeinschaft im staatlichen Rahmenvertrag.

Was begrenzt uns? Im englischen Sprachgebrauch wird unterschieden zwischen «frontiers», also Fronten, und «limits» als allgemeine Begrenzungen oder Einschränkungen.

Krieg adressiert beide Aspekte, staatliche Aggressionen überschreiten bestimmte staatliche Grenzen im juristischen wie im geografischen Verständnis und enden zugleich nicht an ihnen. Kriege polarisieren, indem sie auch von Dritten die Notwendigkeit einer Entscheidung über die «limits» der Auseinandersetzung verlangen. Wo wird Hilfe geleistet? Welche Verpflichtungen werden wahrgenommen? Welche Konsequenzen von Einzelnen wie von staatlichen Gemeinschaften werden mitgetragen?

Während sich die Kriegssituation in der Ukraine verstetigt, verändern sich politische Diskurse. In Deutschland wird vermehrt kontrolliert, abgewiesen, ausgewiesen. Es werden «limits» demonstriert. Zugleich reißen Kriege und Aggressionen weiter Grenzen ein, lassen sie zum Verhandlungsgegenstand im Sinne von «frontiers» werden. Es sind Grenzerfahrungen, die Menschen ohne Kriegserfahrungen kaum nachvollziehen können.
 
Nachbarn des Krieges

Die geografischen Grenzregionen der Ukraine sind Nachbarn des Krieges. Ihren Alltag zeigt Ludwig Nikulski ganz subtil. Ferienorte, scheinbar beliebige Straßen, Einzelpersonen, anstelle von
Menschenmassen verbreiten eine Melancholie, die nie zum Schwärmen wird.

An allen Orten war Nikulski zum ersten Mal. Manches durfte der Fotograf nicht festhalten; an manchen Orten durfte er nicht allein bleiben, weil er sich zu nah an der Grenze befand, ohne dass es für ihn wahrnehmbar war. Auf seine Frage an unterschiedliche Personen, was sich durch den Krieg verändert habe, bekam er mal die Antwort «alles», ebenso wie die Antwort «nichts».

Nikulskis schriftliche Impressionen erzeugen im Kopf filmische Sequenzen, die Fotografien beruhigen das Kopfkino wieder und bringen es auf konkrete Ansichten zurück. Fast möchte ein tiefes Durchatmen die Schönheit mancher Aufnahmen begleiten, die Ruhe, die versöhnliche Farbstimmung, der vor sich hin wuchernden Landschaft, ein Wandern unter den Palmen, das die Gedanken weiter kreisen lässt.

«Auf seine Frage an unterschiedliche Personen, was sich durch den Krieg verändert habe, bekam Ludwig Nikulski mal die Antwort ’alles’, ebenso wie die Antwort ’nichts’.» – Miriam Zlobinski 

«Pod Palmani – unter den Palmen» von Ludwig Nikulski

Osteuropa hat etwas verstörend Überraschendes an sich. Aus dem Westen kommend, scheint es ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein, und das erlaubt es, eine Vielzahl neuer Verbindungen zu einer nostalgischen und imaginären Welt in einer irgendwie dystopischen Gegenwart herzustellen.

Eine kulturelle Vielfalt liegt vergessen auf dem Tisch der Politik, und so beginnt sie, verschiedene Wege zu gehen. Während im Hintergrund dieser Arbeit der Krieg in der Ukraine tobt, habe ich immer auch nach anderen Realitäten Ausschau gehalten, die zur gleichen Zeit stattfinden.

Die Plastikpalmen auf dem militärischen Außenposten eines Feriendorfs, eine edel gekleidete Frau in einem orthodoxen Kloster neben einem Staubsauger, ein liegengebliebenes Auto am Diner, das in der Flut der Regenfälle ertrinkt, als würde es im Mississippi schlafen, der Song Life is Life, der aus dem Autoradio ertönt, während der Fahrer mit hoher Geschwindigkeit Schlaglöchern auf der Straße nach Odessa ausweicht und Büsche die Außenseite unseres Autos zerkratzen, oder einfach die Anmutung einer romantischen Landschaft eines Flussufers im schummrigen Morgenlicht, das zu fotografieren verboten ist. Wie der Rauch, der aus dem Baum aufsteigt, ist diese Arbeit meine Notiz zu dieser Zeit.

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Der Dnister ist Teil der Grenze zwischen Moldawien und der Ukraine. In den Grenzregionen ist es verboten, den Fluss zu fotografieren. (Foto: Ludwig Nikulski)

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«Während im Hintergrund dieser Arbeit der Krieg in der Ukraine tobt, habe ich immer auch nach anderen Realitäten Ausschau gehalten, die zur gleichen Zeit stattfinden.» – Ludwig Nikulski

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Liliana blickt auf die Berge der Karpaten und posiert für ein Porträt am Kloster «Sfintii Apostoli Petru si Pavel» in Botos. Regelmäßig kommt sie mit ihren Freundinnen hierher, um mehrere Tage im Kloster zu beten. Vom Krieg bekomme sie hier nichts mit. (Foto: Ludwig Nikulski)

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In Transnistrien werden vermehrt Kirchen gebaut, berichtet ein Freund, der regelmäßig bei seiner Familie vor Ort ist und dem Fotografen vor Ort hilft. Die Bevölkerung solle damit vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine abgelenkt werden, so die Vermutung. (Foto: Ludwig Nikulski)

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Landschaft im Industriegebiet. Tiraspol, Transnistrien, Februar 2023. Als ein international nicht anerkanntes, von Russland gestütztes De-facto-Regime innerhalb der Republik Moldau liegt Transnistrien. Die politischen Beziehungen zwischen Moldau und Transnistrien verschlechtern sich zusehends. Die moldauischen Behörden haben 2024 Zollvergünstigungen für den nicht anerkannten Staat abgeschafft und wollen künftig Strafzahlungen für Umweltschäden von transnistrischen Unternehmen einfordern. In Transnistrien sind etwa 1.500 Soldaten der russischen Streitkräfte stationiert. Diese wurden jedoch bisher nicht für den russischen Angriff auf die Ukraine zur Verfügung gestellt. (Foto: Ludwig Nikulski)

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Links: Wiktoria nach ihrem 18. Geburtstag, den sie mit ihrer Familie in der öffentlichen Bibliothek von Przewodow in Polen feierte. Zwei Kollegen ihres Vaters kamen ums Leben, als am 15. November 2022 eine fehlgeleitete ukrainische Rakete auf dem benachbarten Bauernhof einschlug. Rechts: Ein brennender Baum in Huwniki, einem kleinen Dorf nahe der Ukraine im Osten Polens. Niemand konnte sagen, warum der Baum brannte. Im Baum lag Müll, eine leere Zigarettenschachtel und ein Papierknäuel. (Fotos: Ludwig Nikulski)

«Wie der Rauch, der aus dem Baum aufsteigt, ist diese Arbeit meine Notiz zu dieser Zeit.» – Ludwig Nikulski

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Pod Palmami, «Unter Palmen», heißt ein Hotel in Okuninka, einem beliebten Ferienort im Dreiländereck Polen, Belarus und Ukraine. Zu Beginn des Krieges waren die Hotels in Okuninka ausschließlich von Militär und Polizei belegt. (Foto: Ludwig Nikulski)
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Starke Schnee- und Regenfälle im Januar 2024 führten zu Überschwemmungen in der Slowakei. Ein verlassenes Auto und ein Restaurant standen in Leles im Osten des Landes unter Wasser. (Foto: Ludwig Nikulski)
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Yuri posiert für ein Porträt im Hochzeitssaal von Gagauz-Sofrasi, einem gagausischen Tourismuskomplex mit Hotel und traditionellem Restaurant. Gagausien ist ein autonomes Gebiet im Süden der Republik Moldau. Die Bevölkerung ist eine ethnische Minderheit im Land und zum großen Teil russischsprachig. Zu Beginn des Krieges stellte die Tochter der Besitzerin ein «Refugees Welcome» Schild auf die Straße. Bis zur Erschöpfung nahmen sie geflüchtete Menschen aus der Ukraine auf und versorgten sie mit Essen. (Foto: Ludwig Nikulski)
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Ein verlassener Rastplatz in Tibava, einer kleinen Gemeinde in der strukturschwachen Grenzregion im äußersten Osten der Slowakei, dem Tor zur EU ohne Autobahn. Seit der Wende 1989 haben die meisten Regierungen die östlichen Regionen der Slowakei vernachlässigt. Eine Hoffnung für die Region sind geflüchtete Menschen aus der Ukraine, die hier in den letzten Jahren vermehrt Häuser gekauft haben. (Foto: Ludwig Nikulski)

Drei Sterne auf dem Highway. Bröckelnder Asphalt vor leuchtend roten Schildern, die auf die Bar und das Restaurant hinweisen. Der weiße Speisesaal mit den verschnörkelten Stühlen und der Schweinshaxe mit Pommes. Eine Tankstelle steht neben dem Hotel. Und auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Parkplatz, auf dem ein verunglückter Lastwagen zum Sterben zurückgelassen wurde. Dahinter verstreute Rauchwolken, die sorgfältig versuchen, den rauschenden Highway in der Abenddämmerung zu verbergen.

Das schwarze Kabeltelefon neben dem Bett und das orangefarbene Licht im Zimmer, das von den Straßenlaternen im Blade-Runner-Stil warm durch die halbtransparenten Vorhänge leuchtet. Alles hier zeugt von Ernsthaftigkeit. Nichts ist mehr verspielt. Alles ist ernst. Der Mond und das Licht, die Lobby und die Plastikpalmen, die Grenzpatrouille, der Billardtisch und darüber die heilige Maria. Nur die Karpaten, mit ihren industriellen Silhouetten aus der Ferne in verschwommener Luft, sehen im Dunst aus wie Spielzeug für Erwachsene.

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Vor einem MIG-19-Denkmal, das an den Zweiten Weltkrieg erinnert, befindet sich ein Spielplatz. In einem Kommentar auf Trip-Advisor heißt es, der Ort sei gemütlich und ziehe junge Leute und Mütter mit Kindern an; in der Nähe gäbe es ein Einkaufszentrum und gute Cafés. (Foto: Ludwig Nikulski)

Miriam Zlobinski
Miriam Zlobinski lehrt und forscht zu Konzepten der Fotografie im Journalismus und der Visualität von Demokratie. Als Lehrbeauftragte im Bereich Medientheorie und Fotogeschichte unterrichtet sie an der Universität der Künste Berlin sowie an der Ostkreuzschule für Fotografie und arbeitet als freie Kuratorin. Sie ist Mitgründerin und Teil der ReVue-Chefredaktion.

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ReVue ISSN2750–7238

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