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Hypothese: 
Alles ist Blatt

Blatt (Deutzia Gracilis), 2019, Fotografie eines Objektträgers aus dem 19. Jahrhundert, archivierter Pigmentdruck auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, 122 x 152,5 cm

Eine Reihe beeindruckender und ideenreicher Arbeiten markiert eine Wende in der Karriere des ungarischen Fotografen Tamas Dezsö, der bisher vor allem als Presse- und Dokumentarfotograf tätig war. Nun findet er eine Metapher für den Menschen in den Pflanzen, die im Grunde aus den gleichen Molekülen und Strukturen bestehen wie wir. Wir befinden uns in ständiger Veränderung, sowohl körperlich als auch geistig. Was also bedeutet persönliche Identität, wie kann sie über die Zeit hinweg Bestand haben und wo liegen die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung?

Text und Fotografien – Tamas Dezsö – 15.04.2023

Übersetzung: Patrick Ploschnitzki

Im Sommer 1685 begaben sich ein Diplomat, ein Philosoph und eine Prinzessin in den barocken Hannoveraner Herrenhäuser Palastgärten auf Blattjagd.

Im dichten Laub, zwischen kunstvoll geschnittenen Hecken und Bäumen suchend, konnte Carl August von Alvensleben dem Philosophen Leibniz und Prinzessin Sophia nur zustimmen: Kein Blatt glich dem anderen. Leibniz, der auch den kleinsten Unterschieden große Bedeutung beimaß, betrachtete jedes Blatt als einzigartiges, nicht wiederholbares Phänomen und kam zu dem Schluss, dass jedes Blatt in seiner unnachahmlichen Individualität die Gesamtheit des Universums in sich trägt.

Tamas Dezsö

Garten (Nachbild), 2017-2022, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Diptychon, 155 x 250 cm

Ein Garten ist ein Grenzbereich zwischen der Ordnung, die den eroberten Raum charakterisiert, und dem Chaos, das sich der Kontrolle des Menschen entzieht. Er ist gleichzeitig ein Symbol für die Vollkommenheit der Natur und unsere absolute Macht über das Nichtmenschliche. Das Diptychon stellt einen seit Jahrzehnten "verlassenen" Garten dar, der von Pflanzen überwuchert wird, die sich der Kontrolle entzogen haben und deren charakteristische rhizomatische Struktur sich ausbreitet. Das Werk ist von der Rhizom-Metapher inspiriert, die von Gilles Deleuze und Félix Guattari eingeführt wurde. Es handelt sich um eine grundlegende Metapher des Denkens ohne Zentrum, nach der das menschliche Denken Teil des wuchernden, heterogenen Funktionierens der Welt ist, in der die Prozesse weder Anfang noch Ende haben und auch keine Teleologie aufweisen. Sie spiegeln die Wirklichkeit nicht wider, sondern konstituieren sie.

Das Wort «Nachbild» im Titel bezieht sich auf die optische Täuschung, die im Auge des Betrachters entsteht, nachdem er dem ursprünglichen Bild nicht mehr ausgesetzt war. Ein Nachbild ist in der Regel ein Negativbild, bei dem die Farben im Vergleich zu ihrem ursprünglichen Zustand umgekehrt erscheinen, und kann auch als Geisterbild oder als anhaltende visuelle Empfindung bezeichnet werden. Nachbilder sind häufig die Folge einer Überreizung bestimmter Photorezeptorzellen im Auge, die eine chemische Veränderung der Netzhautzellen zur Folge hat.

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Garten (Nachbild), 2017-2022, Details, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Diptychon, 155 x 250 cm

Leibniz‘ mehr als dreihundert Jahre alte Betrachtungen und die Fragen, die er aufwarf, faszinierten mich, und ich entdeckte in kurzen Abständen die Werke von Philosophen, die sich mit dem Themengebiet der persönlichen Identität auseinandergesetzt hatten: René Descartes, John Locke, David Hume, Bernard Williams und Derek Parfit.

John Lockes «Eine Abhandlung über den menschlichen Verstand» (An Essay Concerning Human Understanding) von 1689 erwies sich als das relevanteste Werk. Locke machte revolutionäre Aussagen über die menschliche und pflanzliche Existenz und Identität: Was macht den Menschen und was macht die Pflanze aus? Welches Programm bestimmt ihre Existenz im Laufe der Zeit?

Mit anderen Worten: Wodurch bleiben Mensch und Pflanze im Laufe ihres Lebens selbstidentisch, wenn sie sich doch im Grunde stetig verändern – sowohl physikalisch, also auf der molekularen Ebene, als auch konzeptionell und intellektuell? Worin genau liegt die Verbindung, die jede Phase wie in einer Kette aneinanderreiht?

Die moderne Philosophie der Persönlichkeitsidentität betrachtet Lockes legendäre Arbeit als Ausgangspunkt. Und doch finden sich weiterhin strittige Fragen. Hinzu kommt, dass nicht nur die Antworten unzureichend sind, sondern dass sich auch die Bedeutung des uns zur Verfügung stehenden Wissens verschoben und neu strukturiert hat.

Schließlich müssen wir uns eingestehen, dass die bloße Existenz von Pflanzen - trotz ihres Exils am unteren Ende der intellektuellen Hierarchie - eine Grundvoraussetzung für unsere Existenz ist, da sie unsere Atmosphäre schaffen und aufrechterhalten. Angesichts der Klimakrise ist es unabdingbar geworden, Pflanzen ihrer Bedeutung und Tragweite entsprechend zu behandeln und ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, die Fragen der pflanzlichen Identität und der fragilen pflanzlichen Existenz unabhängig von der menschlichen Identität zu verstehen.

Meine Arbeit, die vor diesem Hintergrund entstanden ist, stellt einen experimentellen Ansatz zum Vergleich grundlegender Fragen menschlicher und pflanzlicher Identität dar.

Die heterogene Natur meiner Arbeit spiegelt die unterschiedlichen und weitreichenden Konzepte der Denker wider, die mich inspiriert haben: die verschiedenen Bilder, Diptychen, Triptychen und Serien in unterschiedlichen Maßstäben und Perspektiven - die Porträtserie, die aus einem Marmorblock gehauen und dann wieder zu einem Steinquader verjüngt wurde, die jahrhundertealte Hecke, die antiken mikroskopischen Pflanzendias und das Waldporträt, das die Perspektive erweitert.

Letzteres ist ein Bild von symbolischer Bedeutung: Es erinnert an Goethe, von dem ich den Titel der Serie entlehnt habe, und der sich neben seiner Rolle als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Dichter begierig an der Identität von Pflanzen forschte.

Auf seinen Reisen sammelte er alles, was sich ihm darbot. In seinem Herbarium befanden sich mehrere tausend Blätter. Er legte einen Garten an, in dem er pflanzte, experimentierte und beobachtete. Er warf Fragen auf, die er zu beantworten suchte. So notierte er in sein Tagebuch: «Hypothese - Alles ist Blatt, und durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit möglich.»

Tamas Dezsö

«Variationen über das Selbst», 2018-2022, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Carrara-Marmor, Maße variabel


Das Buch «Reasons and Persons» von Derek Parfit, das dieser Arbeit zugrunde liegt, beschäftigt sich mit den beiden Hauptfragen persönlicher Identität: Was ist Mensch und was Person? Was ist die Bedingung dafür, dass eine Person über die Zeit hinweg als identisch betrachtet werden kann, d.h. welche Kriterien sind notwendig, um sagen zu können, dass eine bestimmte Person über einen bestimmten Zeitraum hinweg ihr Selbst, d.h. identisch bleibt? Das Werk stellt den Weg dar, den der Stein zurücklegt, den Weg der Rückkehr zu sich selbst, den Weg der Selbstidentität. Dieser Weg stellt den Lebensweg des Menschen dar, der die Existenz und die Nichtexistenz, die Entwicklung und das Verschwinden der Person umfasst. Der Wandel ist bedeutsam und unumkehrbar, aber die Konstanz der Selbstidentität, d.h. der persönlichen Identität selbst, lässt sich in den einzelnen Etappen, in den kleinsten Veränderungen verfolgen. In diesem Prozess taucht der Kopf von Ludwig Wittgenstein auf und verschwindet wieder. Im letzten Bild schließt sich der Kreis und der Stein nimmt wieder seine ursprüngliche Form an
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«Variationen über das Selbst», 2018-2022, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Masse variabel

«Die Menschen lassen es sich nicht einmal träumen, dass derjenige, der eine Sache beendet, niemals das beendet, was er begann, selbst wenn beide den gleichen Namen tragen, denn nur dieser bleibt unverändert, nichts weiter.» – José Saramago, Das Todesjahr des Ricardo Reis, 1984

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«Der Garten der Beständigkeit» (Garden of Persistence), 2020-2022, kinetischer Tisch, Holz, Stahldraht, Magnete, antike Metronome, Herbariumsexemplare aus dem 19. Jahrhundert, 110 x 200 x 120 cm, Installationsansicht: Foto Wien, Atelier Augarten, Wien, Österreich, 2022, Foto von Zalán Péter Salát und Csaba Villányi

Pflanzliche und menschliche Zeitlichkeit sind nicht identisch. Das Wesen der menschlichen Ontologie entspringt nicht unserem Leben selbst, sondern seiner Endlichkeit. Pflanzen sind sich ihrer eigenen Endlichkeit nicht bewusst und ordnen daher ihre Existenz ganz dem Leben unter. Der Rhythmus des menschlichen Zeitbewusstseins ist verworren und heterogen. Hinzu kommt, dass der Mensch eigentlich nie mit sich selbst identisch ist - unsere Zeitlichkeit ist nichts anderes als eine permanente Planung, eine permanente Projektion unseres zukünftigen Selbst. Im Gegensatz dazu zwingt der Mangel an Selbstbewusstsein eine Pflanze dazu, sich ausschließlich an die Zeitlichkeit ihres Mediums anzupassen, d.h. den Gesetzen ihrer Umgebung ständig zu gehorchen. Die Abfolge von Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten, die ständige Wiederholung, die mit dem Wachstum einhergeht, die ständige Selbstaufgabe und Wiederaufnahme, der Rhythmus des zyklischen Charakters, all dies bildet die pflanzliche Chronologie, das Bild der ewigen Wiederkehr Nietzsches. Der pflanzliche Körper existiert also nach einer anderen Zeit als der menschliche, aber seine Existenz ist dennoch zerbrechlich und endlich. So können wir auch seine Bedeutung empfinden. Goethe betont in der Metamorphose der Pflanzen den Rhythmus von Wachstum und Verwandlung. Die ständige Reaktion auf den Rhythmus der Umwelt und den Fluss der Nährstoffe gleicht einer Melodie. Die mechanische Synchronisierung der Prozesse ist wie Musik.

«Der Garten der Beständigkeit» ist eine kinetische Installation. Fünfzehn antike Metronome stehen auf einer Tischplatte, die sich auf Stahldrähten bewegt. An den Pendeln der Metronome sind Pflanzen aus Herbarien des 19. Jahrhunderts befestigt. Die Metronom-Pflanzen, also die mechanisch-organischen Einheiten, beginnen nach dem Aufziehen «chaotisch» miteinander zu kommunizieren. Sie verbinden sich durch die Übertragung ihrer kinetischen Energie und synchronisieren sich langsam. Allerdings verlieren sie die synchrone Bewegung fast sofort wieder, obwohl sie sie wieder finden, und so weiter, während sich das Muster wiederholt. Es gibt mehrere Beispiele für Synchronisation in der pflanzlichen Kommunikation und in der pflanzlichen Existenz im Allgemeinen. Sie ist auch die Ursache für das periodische Blinken der Glühwürmchen, das gleichzeitige Zirpen der Grillen, die synchronen Notsignale der Frösche und die miteinander verbundene Blitzaktivität in weit entfernten Gewitterzentren. Das Prinzip der Synchronisation erklärt auch, warum die Teile und sogar die Zellen eines gesunden menschlichen und eines nichtmenschlichen Herzens synchron schlagen.

«Eine Eiche, die ein kleines Pflänzchen war und zu einem großen Baume emporgewachsen ist, ist für uns doch noch dieselbe Eiche, obgleich vielleicht kein materielles Teilchen dasselbe geblieben ist und kein Teil seine Form bewahrt hat. Ein Knabe wird ein Mann.» – David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 1739

Tamas Dezsö
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Sections, 2016-2022, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Maße variabel, Installationsansicht: Foto Wien, Atelier Augarten, Wien, Österreich, 2022, Foto von Zalán Péter Salát und Csaba Villányi


Fotografien von Pflanzenteilen auf britischen und französischen Objektträgern aus dem 19. Jahrhundert. Die Pflanzenteile wurden noch vor Beginn der Umweltverschmutzung im Zuge der zweiten industriellen Revolution, der Motorisierung, der Massenproduktion und des Aufkommens synthetischer Materialien zwischen zwei Glasplatten eingeschlossen. Ihre Formen verweisen eindeutig auf die jeweilige Pflanzenart, sind aber gleichzeitig Teil eines konkreten lebenden Organismus. Diese Pflanzen hatten ihre eigenen einzigartigen Eigenschaften, ihre eigene Lebensgeschichte und ihre eigenen Beziehungen zur Umwelt. So repräsentiert ein Segment nicht nur eine Spezies, sondern auch sich selbst, eine nicht-menschliche «Person», aus der es herausgeschnitten wurde. Die meisten Segmente stammen aus Gebieten Asiens, Afrikas und Südamerikas, die besetzt wurden und gewaltsame Kolonisierung, Sklaverei und Ausbeutung natürlicher Ressourcen erlebten.

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Sections, 2016-2022, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Maße variabel, Installationsansicht: Foto Wien, Atelier Augarten, Wien, Österreich, 2022, Foto von Zalán Péter Salát und Csaba Villányi
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Sections, 2016-2022, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Maße variabel, Installationsansicht: Foto Wien, Atelier Augarten, Wien, Österreich, 2022, Foto von Zalán Péter Salát und Csaba Villányi

«Wenn ich recht tief in dasjenige eindringe, was ich mein Selbst nenne, so treffe ich allemal auf gewisse partikuläre Vorstellungen, oder auf Empfindungen von Hitze und Kälte, Licht oder Schatten, Liebe oder Haß, Lust oder Unlust. Ich kann mein Selbst nie allein ohne eine Vorstellung ertappen, was ich beobachte, ist nichts als eine Vorstellung.» – David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 1739

Tamas Dezsö
Hecke, 2017, Archivpigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Triptychon, 105 x 250 cm / 130 x 320 cm


Die mehrere hundert Jahre alte Hecke wirft die Frage nach der persönlichen Identität von Lebewesen, nach der Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung und nach der Begrenztheit des Wissens auf. Wie ist es möglich, von ein und derselben Hecke zu sprechen, die Jahrhunderte überdauert, während sich die Pflanzengruppe, die wahrscheinlich aus mehreren Eiben besteht, ständig verändert? Wie können die Hecke und die Pflanzen, aus denen sie sich zusammensetzt, die ganze Zeit über sich selbst bleiben, wenn ihre Bestandteile ständig ausgetauscht werden, ihre winzigen Details völlig anders aussehen, ihre Struktur und Form sich von dem unterscheiden, was sie einmal waren? Eine Eibe ist in der Lage, eine Luftwurzel zu bilden, sie im Boden zu vergraben und daraus einen neuen Stamm zu bilden. Ein einziger Baum kann diesen Vorgang mehrere tausend Jahre lang wiederholen, weshalb es sehr schwierig ist, das Alter einzelner Eiben zu bestimmen. Aufgrund ihrer Lebensdauer, die mehrere Menschengenerationen umfasst, galten Eiben bei den Druiden als heilig, während sie in der keltischen Kultur wegen ihrer giftigen Blätter und ihrer Wuchskraft als Symbol des Todes und der Auferstehung galten.

Tamas Dezsö
Tamas Dezsö
«Flesh of Flesh»: Pinus Sylvestris (Scots Pine), 2019 und Abies Alba (Europäische Weißtanne), 2019, archivierbare Pigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, 102 x 127 cm
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Cariniana pyriformis (Kolumbianisches Mahagoni), 2018, archivierbarer Pigmentdruck auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, 102 x 127 cm, Abies Alba (Europäische Weißtanne), 2019, Detail

Die Arbeiten über die innere, mikroskopische Struktur, das «Fleisch» der Bäume, sind inspiriert von Maurice Merleau-Pontys letztem Werk «Das Sichtbare und das Unsichtbare», das durch seinen unerwarteten Tod unvollendet blieb. Hier geht Merleau-Ponty über sein früheres Konzept hinaus, das das transzendentale Ich ablehnt und den Körper in den Mittelpunkt der Erfahrung stellt, und führt den radikalen Begriff des «Fleisches» («la chair») ein. Dieses kollektive Fleisch ist zugleich unser eigenes Fleisch und das Fleisch der Welt (chair du monde). «Wo ist die Grenze zwischen dem Körper und der Welt zu ziehen, wenn die Welt Fleisch ist?» (Merleau-Ponty 1968, S.138)

Tamas Dezsö
Wald, 2018, Archivpigmentdruck auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier, Diptychon, 155 x 250 cm, Installationsansicht: Robert Capa Contemporary, Budapest, Ungarn, 2022


Der Wald mit seiner unendlich verschlungenen Komplexität erscheint als Symbol der persönlichen Identität und der Unzulänglichkeit menschlicher Wahrnehmung. Ein Wald durchläuft ständig Millionen kleinerer und größerer Umwandlungen. Die Bestandteile und Moleküle der Pflanzen, Tiere und Pilze, die in einem Wald leben, verändern sich ständig, Einheiten oder ganze Arten entstehen oder verschwinden für immer. Der Wald ist Schauplatz unendlicher Dramen. Dennoch spricht man von einem Wald, der seit Millionen von Jahren existiert.

Das Diptychon zeigt einen Wald auf den Azoren. Aufgrund ihrer Abgeschiedenheit von menschlichen Gemeinschaften, galten die Azoren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als ein natürliches Evolutionslabor. Die einzigartige Kombination von Abgeschiedenheit und vielfältigen Lebensräumen auf den Inseln ermöglichte die Entwicklung von Hunderten von Pflanzen-, Vogel- und anderen Tierarten, die auf den Inseln endemisch sind, d.h. nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen. In den letzten 100-120 Jahren haben sich die vier Arten Pittosporum undulatum (Australischer Käsebaum), Cryptomeria (Japanische Zeder), Dicksonia antarctica (Menschenfarn) und Hedychium gardnerianum (Kahili-Ingwer), die von Menschen aus Asien und Australien «eingeschleppt» wurden und auf dem Diptychon zu sehen sind, ausgebreitet und die gesamte Waldwelt, die Lebensräume und die Lebensweise der einheimischen Tierwelt verändert und das Ökosystem der Azoren stark beeinflusst. Die theoretischen Debatten über nicht einheimische Arten stellen eine ständige Herausforderung und Verwirrung in den zeitgenössischen ökologischen und philosophischen Theorien dar.

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Wald, 2018, Detail, Archivpigmentdruck auf Hahnemühle Photo Rag Baryta Papier

«Dies ist nicht unsere Welt mit Bäumen darin. Es ist eine Welt der Bäume, in der die Menschen gerade angekommen sind.» –Richard Powers, Die Wurzeln des Lebens, 2018

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