Im Kopf

Migrant Mother
von Dorothea Lange.
 
Eine Fallstudie.

Text — Daniel Blochwitz – 15.10.2021

Dorothea Langes «Migrant Mother» (1936) ist ein bemerkenswertes Bild. Wie aber wurde es zu einer der herausragendsten Ikonen der Fotografie des 20. Jahrhunderts und somit zu einem Teil unseres globalen kollektiven Gedächtnisses und kulturellen Referenzsystems?

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Fallstudie: «Destitute pea pickers in California. Mother of seven children. Age thirty-two. Nipomo, California» (1936), besser bekannt unter dem Titel «Migrant Mother». Foto: Dorothea Lange (Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA)

Unpredictable Icons

Wenn man bekannte Fotografien wie beispielsweise Dorothea Langes «Migrant Mother» (1936) darauf hin untersucht, welche Faktoren dazu führten, dass sie sich zu einer höchst einprägsamen Ikone der Fotografiegeschichte entwickelt haben, könnte man versucht sein, in die Schlussfolgerungen dieses Textes eine gewisse prädiktive Qualität hineinzulesen und sie als potenzielles Template für das Reverse Engineering «erfolgreicher» Bilder anzusehen. Daher möchte ich hier einen kurzen Disclaimer voranstellen:
 
Es gibt grundsätzlich keine allgemeingültige Formel für die Erschaffung universell besonders augenfälliger und einprägsamer Fotos, geschweige denn für die Konstituierung einer Ikone.

Migrant Mother 

Eine der bekanntesten und am häufigsten reproduzierten Fotografien in der Geschichte des Mediums ist zweifellos Dorothea Langes «Mittellose Erbsenpflückerin in Kalifornien. Mutter von sieben Kindern. Alter: zweiunddreißig. Nipomo, California», besser bekannt unter dem Kurztitel «Migrant Mother» von 1936. Es ist zu einem ikonischen Bild geworden, das in gewisser Weise der ganzen Menschheit gehört, auch weil es viel darüber verrät, warum bestimmte Fotografien zu einer besonders aussagekräftigen Repräsentation der Condition humaine beziehungsweise zu beinahe perfekten Abbildungen eines Momentes — egal ob alltäglich oder historisch — oder einer Zufallsbegegnung werden. Ja, manche Fotografien, wie eben «Migrant Mother», schaffen den Sprung dahin, ein Synonym für eine ganze Ära, ein bestimmtes Ereignis, oder auch einen gewissen Fleck auf dieser Welt zu werden.
 
Um den Umfang und die Reichweite von «Migrant Mother» zu verstehen, müssen wir uns aber zuerst mit ihrer Allgegenwärtigkeit auseinandersetzen und vielleicht, als Gedankenexperiment, die Frage stellen: Was wäre die Welt ohne «Migrant Mother»? Was wäre, wenn Dorothea Lange ihr Auto nie gewendet hätte, nachdem sie das Schild «Pea Pickers Camp» schon lange passiert hatte – rund 20 Streckenmeilen später – und in Gedanken eigentlich schon längst auf dem Heimweg war? Was wäre, wenn sie diesen Sinneswandel nicht gehabt hätte und nicht zurückgekehrt wäre, um den Zeltlagerplatz zu besuchen? Oder was wäre, wenn die schließlich porträtierte Frau und ihre Kinder schon aufgebrochen gewesen wären und das Camp bereits verlassen hätten?

Natürlich würden wir das Bild nicht vermissen. Doch die Welt wäre trotzdem um einen Deut ärmer. Es gibt andere, sogar ähnliche Bilder, die von Lange aufgenommen wurden, die die gleiche Haltung einnehmen und in ähnlicher Weise komponiert sind. Hätten diese Bilder die Lücke gefüllt, die eine nicht existierende «Migrant Mother» hinterlassen hätte? Oder hätten sie nie den gleichen Bekanntheitsgrad erreicht? Hätten wir dann keine besondere Ikone für die Great Depression, die Weltwirtschaftskrise? Und wenn nicht, welche Auswirkungen hätte das auf die Art und Weise, wie wir diese schwere Wirtschaftskrise, ihre grassierende Not und ihr menschliches Leid heute darstellen und verstehen? Vielleicht hat «Migrant Mother» einem Land wie den Vereinigten Staaten geholfen, sich gemeinsam gegen die schlimmsten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu stemmen, das gesellschaftliche Trauma zu verarbeiten und Lehren für die Zukunft zu ziehen? Dieses eine Foto einer notleidenden Erntehelferin und Mutter überwand seine im Bild festgeschriebene Spezifität und wurde zu einem bigger picture, zu einem Symbol für die Ära und aller ähnlich betroffenen Menschen.
 
Aber fangen wir von vorne an: Es war im März jenen Jahres, Dorothea Lange (1895-1965) war am «Ende eines kalten, elenden Winters» mit dem Fotografieren fertig und auf dem Heimweg, auf dem Autositz neben ihr «die Kiste mit all den Rollen und Packungen belichteten Films, bereit, sie nach Washington zurückzuschicken» [1]. Als sie ein Schild «Pea Pickers Camp» sah, fuhr sie um einige Meilen daran vorbei,  wahrscheinlich grübelnd und abwägend, bevor sie endlich umdrehte und dahin zurückfuhr.

Im Lager angekommen parkte sie ihr Auto, nahm ihre Graflex-Kamera und näherte sich langsam einer 32-jährigen Frau namens Florence Owens Thompson, die dort mit ihren sieben Kindern in einem Zelt gestrandet war, nachdem «die Erbsenernte bei Nipomo erfroren war» (ebd.). Ohne viel Interaktion nahm Lange eine Serie von sieben [2] Fotos auf und arbeitete sich dabei immer näher an Thompson heran. Die letzte der sieben Aufnahmen war die, die wir heute als «Migrant Mother» kennen.

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Ohne viel Interaktion nahm Lange eine Serie von sieben Fotos auf und arbeitete sich dabei immer näher an Thompson heran. Da Dorothea Lange mit Plattenfilm arbeitete, ist die genaue Reihenfolge der Serie nicht bekannt, es lässt sich jedoch ableiten, dass sie mit einer offenen, ortsbezogenen Aufnahme begann. Die letzte der sechs Aufnahmen war die, die wir heute als «Migrant Mother» kennen. Fotos: Dorothea Lange (Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA)

Was zum ikonischen Status von Langes «Migrant Mother» führte und ihn begründete, war eine Kombination von Faktoren, die einerseits ganz typisch und andererseits recht ungewöhnlich für Bilder ist, denen eine solche exzeptionelle Rolle zufällt. Eher typisch ist wohl die klassische Darstellung der abgebildeten Frau, die den Konventionen und unseren Erwartungen abgebildeter Mutterschaft entspricht. Ein Archetyp, hinter dem die reale Person, Florence Owens Thompson, in den Hintergrund tritt. Die ungezwungene Pose und auch der Ausschnitt erinnern an religiöse Ikonografie, mit einer starken, symmetrischen Komposition und ansprechenden formalen Aspekten. Darüber hinaus ist eine breite Streuung des Bildes in den Jahren nach seiner Entstehung sowie eine kunsthistorische Einordnung, die an unser kollektives Bildgedächtnis anknüpft, als durchaus typisch für eine Fotografie zu bezeichnen, welche eine so unmittelbare und dauerhafte Popularität erreicht.
 
Ein außergewöhnlicher Aspekt und gleichzeitig der Grund für die weite Verbreitung des Bildes, der «Migrant Mother» zu seiner ikonischen Existenz verhalf, war die Gründung der Resettlement Administration (RA) im Jahr 1935, die 1937 in Farm Security Agency (FSA) umbenannt wurde und als staatlicher Förderer Dorothea Lange (und viele andere einflussreiche US-Fotografinnen und Fotografen) mit der Dokumentation der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise beauftragte. Ohne die FSA wäre «Migrant Mother» heute einfach nicht Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Wir wären weder in der Lage, das Bild zu benennen, noch uns mit (der Porträtierten auf) dem Bild zu identifizieren. Darüber hinaus wurden durch die nachträgliche Abtretung des Copyrights alle Fotos, die für die FSA produziert und von ihr zusammengetragen wurden, zum Gemeingut und damit für jeden Interessierten leicht zugänglich.

Mit anderen Worten: Neben dem Auftrag, überhaupt die durch die Weltwirtschaftskrise verursachte Not der Bevölkerung zu fotografieren, trug auch die Tatsache, dass das Negativ der «Migrant Mother» in öffentlichen Besitz gelangte, zu seiner positiven Rezeption bei, indem Reproduktionen weit über Klassen- und Landesgrenzen hinaus verteilt wurden. Als Bild stach es hervor und gab der Weltwirtschaftskrise ein klares Gesicht, in das sich eine Mehrheit der Menschen hineinversetzen konnte.
 
Das Porträt wurde zunächst durch die Nachrichtenmedien, wie Tageszeitungen, Magazine und Illustrierte, popularisiert, erlangte aber im Laufe der Zeit auch kunsthistorische Kanonisierung durch Publikationen und wegweisende Ausstellungen. Darüber hinaus war die Fotografie visuell so ergreifend und schließlich so bekannt, dass frühe Abzüge, die Lange noch selbst von Hand angefertigt hatte, bevor sie das Negativ an die FSA weitergab (und die seither in der Library of Congress aufbewahrt werden), schließlich auch einen hohen Wert auf dem Kunstmarkt entwickelten. Aufgrund ihrer begrenzten Stückzahl und Authentizität werden diese frühen Abzüge in Galerien und Auktionshäusern heute zu sechsstelligen Dollarbeträgen gehandelt .
 
«Migrant Mother» ist eine der seltenen Ausnahmen, bei der sich eine Fotografie, die eine gemeinsam gemachte Erfahrung während einer Krise verarbeitet, tatsächlich in kollektivem Besitz gelangt, während sie im Laufe der Zeit gleichzeitig auch selektivere Kreise ansprach und dort zum Gegenstand wissenschaftlicher und kommerzieller Interessen machte. Dazu weiter unten noch mehr.

«Was wäre, wenn Dorothea Lange ihr Auto nie gewendet hätte, nachdem sie das Schild PEA PICKERS CAMP schon lange passiert hatte, rund 20 Streckenmeilen später und in Gedanken eigentlich schon längst auf dem Heimweg?» — Daniel Blochwitz

Formale Aspekte

Fotografien sind in der Lage, uns aus den Weiten und Tiefen unserer visuellen Kultur zu erreichen, wenn sie bestimmte formale Kriterien erfüllen, wenn sie in einem visuellen Code zu uns sprechen, der Reaktionen auslöst, die in evolutionär verankerten Bedürfnissen oder Wünschen wurzeln, oder wenn sie ein formales Gleichgewicht herstellen, das wir als angenehm oder interessant empfinden, wie bei einem perfekten Kreis, dem goldenen Schnitt, bei Symmetrie, dem menschlichen Gesicht, leuchtenden Farben, um nur einige der offensichtlichsten zu nennen. Es gibt eine gewisse formale Perfektion in der Natur, die unsere Aufmerksamkeit erregt und uns  dann auch in der Abbildung anzieht, wie das Licht die Motten.
 
Dorothea Langes Fotografie der Erbsenpflückerin und siebenfachen Mutter, Florence Owens Thompson (1903-1983), war keine schnelle Einzelaufnahme, sondern eine vorsichtige, zehnminütige Annäherung mit ihrer Großformatkamera an diese Familie, die sie dabei insgesamt siebenmal fotografierte, wobei erst das allerletzte Bild die Qualität erreichte, die ihr am Ende internationale Bekanntheit und einen ikonischen Status einbrachte.
 
Gesichter auf Bildern ziehen bekanntlich unsere Aufmerksamkeit besonders auf sich, selbst in ihrer vagsten Form. Man kann also durchaus behaupten, dass Porträts und Bilder von Menschen die beliebteste Gattung der Fotografie sind, insbesondere dann, wenn sie in Umgebungen oder Kontexten aufgenommen wurden, die dem Betrachter entweder sehr vertraut sind, oder wenn sie in eher außergwöhnlichen Situationen oder sogar exotischen Settings eingefangen wurden. Mit anderen Worten, entweder lassen sie uns durch einen gewissen Wiedererkennungsgrad leicht einen Bezug herstellen oder sie wecken unsere Neugier durch ihre Anders- und Neuartigkeit. «Migrant Mother» schaffte beides: Die Menschen erkannten darin sowohl ihre eigenen täglichen Sorgen und Nöte, die die Weltwirtschaftskrise mit sich brachte, als auch die prekäre Situation eines anderen Menschen, dem es noch viel schlechter zu gehen schien.
 
Die bekannteste der sieben Aufnahmen, die die «Migrant Mother» zeigen, wurde aus unmittelbarer Nähe aufgenommen. Florence Owens Thompson wurde sehr eng durch das 4x5-Zoll-Format eingefasst, wodurch viel vom Kontext ausgespart wurde, der in den vorangegangenen sechs Bildern noch erkennbar war und die sie in einem dürftigen Zelt auf kargem Boden zeigt, in dem nur wenige Habseligkeiten verstreut herumliegen. Ein leerer Teller vor der Mutter und ihren Kindern sieht fast wie ein bewusst inszenierter Bezeichner aus, war aber seit den ersten Aufnahmen an dieser Stelle.

Im nun berühmten Schlussbild steht auch er außerhalb des Rahmens. Statt also den Blick über die Habseligkeiten der Familie schweifen zu lassen, die ihre prekäre Lage kennzeichnen könnten, richtet sich unser Fokus in dieser letzten Nahaufnahme auf die Details ihrer müden Gesichtszüge sowie auf ihre Gestik und Körperhaltung. Der geringe Schärfentiefe betont auch die Verhältnisse und offenbart die Texturen ihrer Haut, ihres Haares und ihrer Kleidung sowie die ihrer Kinder. Alles, was in den vorangegangenen sechs Aufnahmen durch mehr Kontext zum Ausdruck kommt, ist in diesem letzten Porträt immer noch vorhanden, aber es liegt in kleinen Details.
 
Nur drei ihrer Kinder sind in diesem Foto abgebildet, wobei keines von ihnen in Richtung der Kamera schaut. Die beiden älteren Kinder haben sich ganz abgewandt—sie schmiegen sich links und rechts an ihre Mutter und rahmen sie so ein—, während das Baby kaum merklich in Thompsons linkem Arm schläft. In vielen ihrer ausdrucksstarken Fotografien legt Lange viel Aufmerksamkeit auf die Hände und Handgesten ihrer Porträtierten. Auch in diesem Bild wird Thompsons Hand zum zentralen Fokus, denn sie berührt damit in einer eher nachdenklichen Pose sanft ihr Gesicht und ruht dabei mit dem Ellbogen auf ihrem Schoß. Sie blickt nachsinnend an der Kamera vorbei, fast so, als würde sie die Fotografin und ihren wuchtigen Apparat gar nicht bemerken.
 
Lange macht das Beste aus dieser nicht inszenierten Situation und unaufgeforderten Pose. Sie betont dabei ein dreieckiges Blickfeld sowie starke diagonale Linien. Gleichzeitig animiert die Komposition unseren Blick um das gesamte Bild herum, lässt uns aber immer wieder zu ihrem Gesicht zurückkehren. Florence Owens Thompson zieht die zentrale Aufmerksamkeit der Kamera auf sich, die Kinder sind verdeckt, aber präsent, um die Mutterschaft anzudeuten. Was auf den ersten Blick eine einfache Komposition zu sein scheint, offenbart bei näherer Betrachtung eine hohe Komplexität. Während sie einerseits den Konventionen von Porträtierung zu entsprechen scheint, scheut Lange andererseits auch nicht davor zurück, uns das Elend in selten gesehenen Details zu zeigen. Daher kann das Bild unsere Aufmerksamkeit auch über einen längeren Zeitraum halten und liefert bei eingehendem Studium immer neue Informationen und Erkenntnisse.
 
Der sogenannte «Geisterdaumen» im Bildvordergrund, auf dem Holzbalken rechts, ist den meisten Menschen wahrscheinlich noch nie aufgefallen. Im Jahre 1939, vor der Bildveröffentlichung in «An American Exodus», bat Lange einen ihrer Assistenten, den Daumen weg zu retuschieren, weil sie ihn als störend empfand. Ich bezweifle, dass der Daumen vielen anderen Betrachtern als markant aufgefallen wäre, geschweige denn, dass diese sich daran gestört hätten. Aber es blieb auch nicht die einzige Retuschierung des Bildes. Zeitungen und Zeitschriften, einschließlich der New York Times, haben den Hintergrund und sogar die Kinder vor der Reproduktion des Bildes übermalt, Thompson dabei noch stärker vom Kontext isoliert und so die ohnehin schon ikonenhafte Erscheinung dieser Frau weiter überhöht.

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Lange bat 1939 einen ihrer Assistenten, den sogenannten «Geisterdaumen» im Bildvordergrund (auf dem Holzbalken rechts) weg zu retuschieren, weil sie ihn als störend empfand. Foto: Dorothea Lange (Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA)

Offensichtlich scheint die gesamte Szene besonders Kunstwerke innerhalb einer religiösen Ikonographie zu implizieren, darunter zum Beispiel Raffaels Madonna del Prato (1506) mit der Jungfrau Maria und den Kindern Jesus und Johannes dem Täufer, oder Michelangelos Pietá (1498-1499). Auch die Fotografin Julia Margaret Cameron aus dem 19. Jahrhundert widmete eine Reihe ihrer inszenierten Bilder dem religiösen Thema der heiligen Familie oder der Jungfrau Maria mit Kind, was einem in der Folge der Betrachtung von «Migrant Mother» in den Sinn kommen mag.

Sie scheint aber auch beispielsweise an die Skulptur Ugolino und seine Söhne (1865-67) von Jean-Baptiste Carpeaux zu erinnern, die auf der Geschichte des Ugolino in Dantes Inferno basiert und den gefangenen und hungernden Ugolino und seine vier Kinder in einem Moment absoluter innerer Zerrissenheit und Verzweiflung zeigt. Seit 1967 ist Ugolino und seine Söhne als Dauerausstellung im Metropolitan Museum of Art in New York City zu sehen, dem größten enzyklopädischen Kunstmuseum der Welt und damit ein viel besuchtes Bildarchiv, in dem wir unser kollektives Gedächtnis schulen. «Migrant Mother» selbst gelangte schließlich im Jahr 2000 in die Sammlung des Metropolitan Museum of Art.
 
Dennoch ist es wohl die Ikonographie der Madonna beziehungsweise der Mutterschaft im Allgemeinen, die für «Migrant Mother» am relevantesten zu sein scheint, weil diese zu einem der am tiefsten verwurzelten und universellsten Bestandteile unseres kollektiven kulturellen Gedächtnisses geworden ist und es uns ermöglicht, sofort historische Versionen solcher Bilder in Erinnerung zu rufen – selbst wenn wir dabei nicht immer gleich ein spezifisches Bild nennen können, das diesem Eindruck gerecht wird. Die Anziehungskraft, die Leonardo da Vincis Mona Lisa, zum Beispiel, auf eine schwindelerregende Anzahl ziemlich heterogener Besucherscharen im Louvre in Paris ausübt, ist geradezu unglaublich. Von sämtlichen ausgestellten Werken im Louvre will fast jeder einzelne Besucher dieses eine berühmte Gemälde sehen, anscheinend mit nur dem einen Ziel: selbst dieses kleine Kunstwerk zu fotografieren, was bereits millionenfach in Publikationen und anderem Bildmaterial reproduziert wurde. Tatsächlich hat niemand, der den Louvre besucht, die Chance und wohl auch kein spezielles Bedürfnis, die «Mona Lisa» wirklich in all ihren Details zu betrachten. Was wir uns wünschen, ist nicht ein genauer Augenschein, sondern der Abgleich und die Bekräftigung eines Archetyps sowie die Verstetigung einer Ikone. Es ist Anbetung. Der erlösende Schnappschuss des Gemäldes fügt dem ohnehin schon dicken Sediment unseres kollektiven Gedächtnisses und dem Konsens in Bezug auf diese besondere Ikone innerhalb der westlichen Kunstbetrachtung noch eine weitere Schicht hinzu.
 
Auf der anderen Seite führt die Aufmerksamkeit, die Ikonen und sogar die Art und Weise, wie bestimmte Ikonen gerahmt sind, neurowissenschaftlich gesehen zu einer «unbewussten Blindheit» [3] gegenüber den meisten anderen Kunstwerken im Raum. Ikonen haben den Effekt, dass sie die meisten anderen Bilder in ihrer Nähe nahezu unsichtbar machen. Das können zum Beispiel Bilder sein, die außerhalb des dominanten westlichen Kanons liegen, wie wir es viel zu lange erlebt haben, oder es können, wie in unserem speziellen Fall, die meisten anderen Fotografien von Dorothea Lange sein, die sie während ihrer Tätigkeit für die FSA aufgenommen hatte. In ihrem Interview mit Popular Photography von 1960 beklagte sie sich zu Recht: «Ich bin keine ‘Ein-Bild-Fotografin'» (ebd.).

«Ikonen haben den Effekt, dass sie die meisten anderen Bilder in ihrer Nähe nahezu unsichtbar machen.» — Daniel Blochwitz

Beitrag

Das Bild war von Anfang an für eine breite öffentliche Rezeption bestimmt, zumal Roy E. Stryker, Leiter der Farm Security Agency, Langes «Migrant Mother» bald als das Bild der FSA bezeichnete. Es wurde geradezu zum Aushängeschild der FSA und erlangte als solches die Aufmerksamkeit der Amerikaner und vieler Menschen rund um den Globus, prägte dabei die Dokumentarfotografie und eröffnete einer ganzen Reihe heute bekannter Fotografinnen und Fotografen ihre Berufslaufbahn.
 
Dorothea Lange erkannte früh, dass die Wirtschaftsmigration eines der Grundübel moderner kapitalistischer Gesellschaften ist, dass die stetige Suche nach einem Ort, an dem man leben und einen Lebensunterhalt verdienen kann, eine Bevölkerung in einem ständigen prekären Schwebezustand hält, dabei die Ressourcen einer Gesellschaft belastet und die Demokratie gefährdet. Entwurzelte Menschen können ihr Potenzial nicht ausschöpfen und sich nicht nach besten Kräften und Fähigkeiten einbringen, weil ihr Fokus allein auf dem Überleben liegt. Lange suchte und lieferte Bilder für das, was sie hier als großes Problem der Zeit und für die Zukunft erkannte, und das schon bevor sie für die Resettlement Agency, die spätere Farm Security Agency, angestellt wurde.
 
Dorothea Langes Fotografien, zusammen mit denen ihrer Kolleginnen und Kollegen von der FSA, waren von Anfang an als Dokumentationen über die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren gedacht, insbesondere darüber, was der Zusammenbruch der Sharecropping-Landwirtschaft für die ländlichen Gebiete in den Vereinigten Staaten bedeutete. Es sollte sichtbar gemacht werden, was zuvor kaum Gegenstand gezielter Aufmerksamkeit der fotografischen Zunft gewesen war. Da die Beauftragung von Fotografen zu diesem Zweck jedoch im öffentlichen Interesse durch eine staatliche Stelle erfolgte und nicht durch die typischen privaten oder unternehmerischen Interessen, spiegelten die Aufträge das Leben und die Probleme eines viel breiteren Spektrums von US-Bürgern wider. In gewisser Weise wurde die «Migrant Mother» dadurch zu einem amerikanischen Selbstporträt: Sie wurde zu einem Zeitzeugnis und zu einer Ikone der USA während der Weltwirtschaftskrise.
 
Was vielleicht zur positiven öffentlichen Rezeption des Bildes und seiner symbolischen Bedeutung beigetragen hat, muss man wohl etwas zynisch anmerken, war das Missverständnis, dass die «Migrant Mother» Florence Owen Thompson nicht, wie damals gemeinhin angenommen, eine weiße Mutter war, sondern vom Stamm der Cherokee abstammte. «Dieses Detail», schreibt die New York Times (28.11.2018) unter Berufung auf die MoMA-Fotokuratorin Sarah Meister, «wirft die zwingende Frage auf, ob 'Migrant Mother' so viel Anklang gefunden hätte, wenn die Betrachter gewusst hätten, dass es sich bei den Dargestellten um eine amerikanische Ureinwohnerin handelt. 'Wir waren nie ein rassenblindes Land', sagte Frau Meister. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Reaktion die gleiche gewesen wäre, wenn jeder gewusst hätte, dass sie Cherokee war, aber ich glaube nicht, dass man das kann.» Doch sobald das Bild zu einer Ikone wurde, transzendierte es die reine Darstellung und damit jede spezifische Identität.
 
Dies bringt auch Paula Rabinowitz zum Ausdruck, wenn sie «die Macht der Bilder - eine Macht, die ihre Fähigkeit einschließt, den ursprünglichen Anlass der Aufnahme zu übersteigen», betont und dann speziell auf «die verstörende Geschichte von Langes 'Migrant Mother',» eingeht, die, so Rabinowitz weiter, «erzählt und wiedererzählt, mit äußerster Eindringlichkeit ein Beispiel für den Diskurs als Ablage von Bedeutung bietet—die Fotografie ebenso wie deren wechselvolle Geschichte umfasst eine Frau und ihre Kinder, eine Fotografin, ein Regierungsamt, populäre Illustrierte, Museen, Wissenschafter und eine sich stetig verändernde Öffentlichkeit—ein Bild und eine Legende, die an verschiedenen Orten zusammengesetzt, überarbeitet, in Umlauf gebracht und neu aufgelegt werden, bis die Realität, die das Motiv zunächst besaß, verschwunden und das Bild zur Ikone geworden war» [4].
 
Die Art und Weise, wie der ikonenhafte Charakter dieser Fotografie sie von jeglicher spezifischen Bedeutung entleert hatte, geht über das Symbolische hinaus und in die realen Lebensumstände der Porträtierten hinein, oder wie Florence Owen Thompson 1978 von der Associated Press zitiert wird: «Das ist mein Bild, das überall auf der Welt hängt, und ich bekomme keinen einzigen Penny dafür.» Dorothea Lange erklärte in ihren Aufzeichnungen, dass es ein gegenseitiges Einverständnis zwischen den beiden Frauen gab, ihr, der Fotografin, und Thompson, ihrem Motiv; dass das Bild wohl beiden helfen könnte. Als das Bild dann von den Zeitungen aufgegriffen wurde, hat es tatsächlich dazu beigetragen, Lebensmittel in dieses spezielle Erbsenpflückerlager zu leiten. Es verschaffte einigen hungernden Erntehelfern und Erntehelferinnen und ihren Familien also eine gewisse Notlinderung und erfüllte damit ein Ziel der FSA.

Es verschaffte Menschen wie Florence Owen Thompson eine gewisse Erleichterung. Doch man muss auch betonen, es hob diese siebenfache Mutter nicht aus der Armut. Niemand erkannte in ihr die Frau, die unter der Brücke schlief, oder später die Frau, die in einem Krankenhaus arbeitete. Ja, «in späteren Historiographien dieser Zeit wird Langes Erfolg in Bezug auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der kalifornischen Erbsenpflücker durch ihre Bilder zu einem Mythos überhöht und als Verweis auf das Potenzial der Fotografie aufgeführt, wie diese die Lebensumstände realer Menschen verbessern kann» [5].
 
Ihr Foto wurde in den wichtigsten Büchern und Überblicksausstellungen zur Geschichte der Fotografie gezeigt, insbesondere in der berühmten Nachkriegsausstellung Family of Man (1955), die von Edward Steichen für das Museum of Modern Art (MoMA) kuratiert wurde und jahrelang um die Welt reiste und dabei von Millionen von Menschen gesehen wurde, ganz zu schweigen von unzähligen internationalen Gruppen- und Einzelausstellungen sowie einschlägigen Publikationen. Eine erste große Veröffentlichung ihrer Fotografien aus Zeiten der Wirtschaftskrise war ihr bahnbrechender Bildband «An American Exodus: A Record of Human Erosion» von 1939.

Eine viel beachtete Ausstellung aus jüngerer Zeit, «Dorothea Lange: The Politics of Seeing», in der auch der «Migrant Mother» und ihrer Geschichte besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, reiste von Oakland (The Oakland Museum of California, das Museum, dem Lange und ihr Ehemann ihre gesamte, nicht öffentlich zugängliche Fotosammlung und ihr Archiv geschenkt hatten, darunter etwa 25.000 Negative und 6.000 Abzüge, sowie Briefe, Bildunterschriften, Schmuck und andere Erinnerungsstücke), Nashvillle (The First Art Museum), Paris (Jeu de Paume) und London (Barbican Centre). Der Erfolg dieser Ausstellung zeigt das anhaltende Interesse an Dorothea Langes Werk und insbesondere an «Migrant Mother». Auch das MoMA knüpfte daran an und widmete dem Werk Langes 2020 die Ausstellung «Words & Pictures», während die damalige Fotografiekuratorin des MoMA, Sarah H. Meister, fast zeitgleich auch ein Buch veröffentlichte, das sich ausschließlich mit der einen herausgestellten Fotografie beschäftigt «Dorothea Lange: Migrant Mother» (2019).

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Dorothea Lange mit ihrer Graflex Kamera auf einem Ford V8, fotografiert von Rondale Partidge für die Farm Security Administration, 1936, © Library of Congress, Prints & Photographs Division, fsa.8b27245

Verbreitung

«Migrant Mother» wurde anfangs vor allem durch Massenmedien verbreitet, welche gerne solche Bilder aufgriffen, die Berichte über die sozialen und ökonomischen Auswirkungen Weltwirtschaftskrise effektiv illustrieren konnten, was schließlich zu einer Reihe von ersten Ausstellungen und Publikationen führte. Aber der wohl wichtigste Schritt hin zu ihrem ikonischen Status war die über den Informationswert hinaus gehende kommerzielle Verwertung unserer Beziehung zu diesem Bild, die mit der Fähigkeit zur potenziell endlosen Reproduktion und den marktgesteuerten Bemühungen, dieses Angebot einzuschränken, verbunden ist.
 
«Migrant Mother» ist ein eigentümlicher Fall, denn einerseits entmystifiziert es die weit verbreitete Meinung und akzeptierte Regel, dass der rar gewordene Abzug eine Voraussetzung für seinen lukrativen und wertschätzenden Markt ist, während es andererseits diese Konvention auch unterstützt. «Migrant Mother» ist wahrscheinlich immer noch das am meisten reproduzierte Bild in der Geschichte der Fotografie. Potenziell hatte und hat jeder Zugang zu einem Abzug direkt vom Originalnegativ, zur Verfügung gestellt durch die Library of Congress und gegen Zahlung einer reinen Aufwandsgebühr. Das gilt auch heute noch, nur dass man heutzutage eine hochauflösende digitale Datei erhält - aber immer noch vom Originalnegativ hergestellt. Das Digitalisat hat das Bild von der Tyrannei der materiellen Welt befreit und vielleicht zu einer neuen Verbreitungswelle geführt.
 
Das bedeutet, dass heute buchstäblich Tausende, wenn nicht Millionen von Reproduktionen, hergestellt vom Originalnegativ, im Umlauf sind. Zumeist sind die vom Originalnegativ hergestellten Prints nicht sehr gut, da beim Abzugsvorgang keine künstlerische Absicht im Spiel ist, sondern nur eine automatisierte und standardmäßige Belichtung und chemische Entwicklung zum Tragen kommt. Eine digitale Datei hingegen erlaubt es dem technisch versierten Drucker, die verfügbaren Bildinformationen zu einer einigermaßen passablen Druckqualität zu verarbeiten. Aber es bleibt ein Abzug, der nur die Lizenz oder «Autorisierung» der Library of Congress als Urheberrechtsinhaber besitzt, nicht aber die explizite Authentisierung durch die Künstlerin. Das einzige Original in Bezug auf die Künstlerin ist hier das Negativ. Dennoch haben wir eine Beziehung zu dem Objekt, wenn auch eine weniger auratisch geartete.
 
Letztere Bedürfnisse – also in Bezug auf des Objekts – werden durch die anderen, noch existierenden Originale abgedeckt: es sind die Abzüge, die Dorothea Lange zu Lebzeiten selbst von ihrem eigenen Negativ hergestellt hat, bevor dieses in die Library of Congress wanderte. Womit wir bei der anderen Seite des Arguments angelangt sind, nämlich der, dass es auch einen Markt für  seltene Exemplare von Handabzügen der «Migrant Mother» gibt.
 
Die Chronologie der Existenz des Bildes erlaubt es uns, die von seinem Negativ hergestellten Abzüge zurückzuverfolgen und klar zu unterscheiden zwischen Abzügen, die von der Künstlerin selbst angefertigt wurden, während sich das Negativ noch in ihrem Besitz befand, wie kurz auch immer, und solchen Abzügen, die später angefertigt wurden, nachdem das Negativ in den Händen der Regierung war. Die Möglichkeit festzustellen, dass bestimmte Abzüge von Dorothea Lange selbst gemacht wurden, bevor das Negativ in das Archiv der Farm Security Agency und später der Library of Congress gelangte, verleiht diesen Abzügen den Hauch künstlicher Verknappung und damit eine besondere Wertschätzung unter Sammlern und Kuratoren, was zu entsprechend begehrten Provenienzen führt.

Darüber hinaus können wir aufgrund des später aus dem Negativ wegretuschierten Daumens im Jahr 1939, wie zuvor beschrieben, ihre Abzüge auch als 'vor der Retuschierung' und 'nach der Retuschierung' datieren. Dies liefert einen ungewöhnlich klaren Aufschluss darüber, welche Abzüge als sogenannte «Vintages» gelten können—mit dem akzeptierten Standard, dass Vintages bis zu fünf Jahre nach der Bildaufnahme vom Originalnegativ abgezogen sein müssen—, welche damit eine höhere, ihm nachgesagte Authentizität geniessen, was in der Regel eine größere Nachfrage und folglich einen wesentlich höheren Preis nach sich zieht.
 
Diese Suche nach dem wertvollsten echten und signierten Vintage-Print, mit der besten Provenienz und glanzvollsten Kette von Besitzern, treibt den Preis dieses Bildes in fast perverse Höhen. Der Wettbewerb zwischen wenigen, sehr wohlhabenden Sammlern, die ihre Kunst nicht in erster Linie wegen ihrer formalen oder historischen Eigenschaften, sondern wegen ihres ikonischen Status auswählen, führt zu den extrem hohen Preisen für diese ausgesuchten Abzüge. Für sie ist oft weniger entscheidend, wie das Bild aussieht oder was es bedeutet, sondern vielmehr, welcher Sammler es auch hat oder haben will. In dieser Welt der «Kunst als Vermögenswert» hat ein bestimmtes Werk nur dann einen Wert, wenn mehr als ein Sammler es unbedingt sein eigen nennen will.

Und im Hinblick auf das Wesen der Fotografie bezüglich seiner massenhaften Produktion und «technischen Reproduzierbarkeit» (Walter Benjamin) muss das «eine» fragliche Foto zu den herausragendsten künstlerischen Werken des Mediums zählen, um einen ausreichenden Wettbewerb zu entfachen, der einen Silbergelatineabzug in einen sechs- oder gar siebenstelligen Preisbereich katapultieren kann. Bei fehlender Nachfrage gibt es schlussendlich keine Wertsteigerung, selbst bei einem knappen Angebot für ein fotografisches Multitalent. In solch einem Fall handelt es sich lediglich um kommerzielles Wunschdenken, vielleicht um eine sachkundige Vermutung, die vor allem auf formalen oder kunstwissenschaftlichen Einschätzungen beruht.
 
«Migrant Mother», mit seiner ausgeprägten formalen Stärke, seiner hohen Wiedererkennbarkeit und seiner Bedeutung innerhalb der Fotografie des 20. Jahrhunderts sowie den unverwechselbaren Merkmalen ihrer verschiedenen Reproduktionen, machte die seltensten Exemplare erhältlicher Handabzüge zu einem äusserst begehrten Gut. Dieses Bild einer mittellosen Erbsenpflückerin in Kalifornien und Mutter von sieben Kindern, die nie «einen Penny» für den Umstand erhielt, das bekannteste Gesicht der Weltwirtschaftskrise zu sein, kann auf dem heutigen Kunstmarkt hohe sechsstellige Dollarbeträge einbringen. Die schiere Allgegenwärtigkeit des Bildes und seiner Reproduktionen scheint keinen hemmenden Einfluss auf den Preis der seltensten frühen Abzüge zu haben.

Im Gegenteil, der ikonische Status des Bildes hilft dem Markt für Vintage-Prints von «Migrant Mother», trotz der Tatsache, dass daneben massenhaft weitere, auch «autorisierte» Abzügen vom genau gleichen Originalnegativ hergestellt wurden. Mit anderen Worten, selbst bei Auktionsresultaten findet man heute eine Preisspanne von etwa USD 100 bis zu einem Höchstpreis von zur Zeit USD 337’500 (Phillips New York, 2019) - sowie noch höhere (aber nicht öffentlich genannte) Beträge zu denen die teuersten Abzüge auf Kunstmessen oder in Galerien gehandelt werden, abhängig von ihrer Qualität, Vorgeschichte und Provenienz sowie der «Motivation des Besitzers zum Verkauf».

Das Fazit

Was machte Dorothea Langes «Migrant Mother» nun zu einem so ikonischen Bild? Was hat dazu beigetragen, dass sich das Bild so tief in das Bewusstsein und die Erinnerung eines jeden von uns eingebrannt hat? Wie wurde es zu einem der Schlüsselbilder unseres kollektiven Gedächtnisses, zu einem Bild, das uns als Referenz dient und über das wir mit fast jedem diskutieren können, ohne es zeigen und ansehen zu müssen?
 
Liegt es an bestimmten kompositorischen Merkmalen, die das Wieder/Erkennen erleichtern, in unser Unterbewusstsein vordringen und unser Interesse wecken? Ist es die Tatsache, dass es sich bei dem abgebildeten Sujet um einen Menschen mit einem markanten Gesicht in einer bestimmten Pose handelt? Oder ist es die Art und Weise, wie es unser Bildwissen und unsere kunsthistorische Prägung aufgreift, abgleicht und vertieft, indem es (auch) auf nahezu universelle Bilder, wie die der Mutterschaft, religiöser Darstellungen und der Condition humaine Bezug nimmt? Oder ist es, weil es mehr als jedes andere Bild dieser Epoche reproduziert wurde? Oder ist es die historische Bedeutung, die ihm von Kunstwissenschaftlern, Kuratoren, Verlegern und den verschiedenen Bildredakteuren von Zeitungen und Illustrierten beigemessen wurde? Oder ist es gar der monetäre Wert, den rar gewordene Exemplare von Abzügen durch die Konkurrenz der Sammler erreicht haben? Wahrscheinlich alles von dem.
 
Eine Fotografie, die aufgrund ihrer formalen Bildcharakteristika und des im Bild festgehaltenen menschlichen Interesses, ihrer kunsthistorischen Bedeutung und Einordnung, ihrer fast exzessiven Vervielfältigung und Verbreitung sowie ihres breit gestreuten öffentlichen Eigentums und ihrer gleichzeitigen Bedeutung auf dem Kunstmarkt unsere Aufmerksamkeit derart erregt, wird zwangsläufig einen Grad an Bekanntheit und Konsens erreichen, der sie weit oben auf dem Olymp unserer visuellen Kultur etabliert. Die Fotografie von Dorothea Lange ist zum Synonym für den Begriff «Migrant Mother» sowie die Ära der Weltwirtschaftskrise geworden. Das Bild überlagert regelrecht die Worte und die Zeit.

Dieser Text wurde als Fallbeispiel für eine Ikone der Fotografiegeschichte geschrieben und war (in leicht geänderter Form) Teil des längeren, auf Englisch verfassten, wissenschaftlichen Essays «Neuro-Aesthetics and the Iconography in Photography, 2020» über das neurowissenschaftliche Neuland der «Predictive Coding Theory» in Bezug auf bildende Kunst, welchen ich in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Neurowissenschaftler und Professor für Neuropsychologie, Prof. Dr. Hennric Jokeit, geschrieben habe. Der Text war dabei also weniger an die Kunstwelt gerichtet, sondern insbesondere an Neurowissenschaftler/innen, die zwar durchaus kunstinteressiert sind oder sein können, ich aber im Detail keine tieferen Kenntnisse in Sachen Fotografie und Kunst voraussetzen wollte. Im Kern geht es um den Versuch, zu verstehen, warum bestimmte Bilder in der Aufmerksamkeitsökonomie besonders erfolgreich agieren und in unseren Kulturen einen besonders exponierten Platz einnehmen. 

Daniel Blochwitz
Daniel Blochwitz (*1973) stammt aus Thüringen, hat in den USA studiert und 2003 mit einem Master of Fine Arts in Fotografie von der University of Florida abgeschlossen. Im Anschluss ging er auf Einladung des Whitney Museums nach New York, um das dortige postgraduierte Independent Study Program zu besuchen. Seit 2005 arbeitete er für verschiedene New Yorker Galerien und ab 2011 als Leiter der auf Fotografie spezialisierten Galerie Edwynn Houk in Zürich. Seit 2015 betätigt sich Blochwitz als freier Kurator mit Schwerpunkt Fotografie und hat verschiedene Einzel- und Gruppenausstellungen für Museen, Galerien und Off-Spaces realisiert. Darüber hinaus publiziert, lehrt und berät er immer wieder in Sachen Fotografie, war künstlerischer Leiter der der photo basel und ist seit diesem Jahr Kurator des Fotofestival Lenzburg. Daniel Blochwitz lebt in Zürich.
Quellen und Verweise
[1] Lange, The Assignment I'll Never Forget, Popular Photography, Vol. 46, No. 2, Feb. 1960, 42,126 // nachgedruckt in Newhall, Photography: Essays and Images, 1980, 262-65)
[2] Auch wenn Dorothea Lange im Rückblick selbst nur von fünf Bildern spricht, die sie vor dem ikonischen Schlussbild fotografierte und oft nur sechs Bilder gezeigt werden, so hat Lange doch insgesamt sieben Aufnahmen von Florence Owens Thompsons gemacht.

[3] vgl. Nicolas Mirzoeff, How to See the World, 2015, 77

[4] Paula Rabinowitz, They Must be Represented: The Politics of Documentary, 1994, 86

[5] Lili Corbus Bezner, Photography and Politics in America, 1999, 6

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ReVue ISSN2750–7238

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