Im Kopf

Grüner Schein und graue Zellen

Text und Abbildungen — Hennric Jokeit

Haben Sie heute schon ins Grüne geschaut? Und ist Ihnen dabei aufgefallen, dass sowohl unsere Augen als auch unser Gehirn jene Farbe als angenehm empfinden? Warum das so ist, weiß Hennric Jokeit. Der Neuropsychologe und Leiter des «Instituts für Neuropsychologische Diagnostik und Bildgebung» am Schweizerischen Epilepsiezentrum weiht uns ein in das Zusammenspiel von Netzhaut und Neuronen. Und nicht nur das: Als Fotograf liefert er auch die passenden Bilder dazu.

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Grünes Blätterspiel (c) Hennric Jokeit, OT, 2024

Eine Hypothese der Großhirnrinde

Was wir Realität nennen, ist nichts anderes als eine sinnliche Halluzination – eine fantasievolle Hypothese der Großhirnrinde darüber, was die Welt uns mitteilen könnte. Unsere Augen gleichen trüben Fenstern, durch die wir einen flüchtigen Blick auf die Bühne des Seins zu erhaschen hoffen. Erst das Gehirn vermag es, den neuronalen Strom aus der Netzhaut zu interpretieren und ihn eigenwillig als visuelle Empfindung ins Bewusstsein zu projizieren. Jeder Augenschein ist somit eine Abstraktion – eine subjektive Rekonstruktion dessen, was dem Verstand in diesem Moment am plausibelsten erscheint.

«Jeder Augenschein ist eine Abstraktion – eine subjektive Rekonstruktion dessen, was dem Verstand in diesem Moment am plausibelsten erscheint.» — Hennric Jokeit

Unsere subjektiven Linsen

Der diabolische Verdacht, dass die Wahrheit selbst ein Ding der Unmöglichkeit sei, trieb Heinrich von Kleist vor über 200 Jahren an den Rand des Wahnsinns. Aus der Lektüre von Kant und Fichte zog er den fatalen Schluss, dass die Wissenschaft bestenfalls subjektive Wahrheiten zu liefern vermöge. Diese Erkenntnis erschütterte sein Vertrauen in die Vernunft als Leitprinzip der Aufklärung.
 
In einem Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge brachte Kleist seine Zweifel allegorisch auf den Punkt: «Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.»[1] 
 
Nach dieser Kantischen Krise war Kleists Weltwahrnehmung die einer durch subjektive Linsen gebrochenen Wirklichkeit – und nie die der reinen Wahrheit selbst. Dieses perspektivische Umdenken durchzieht sein weiteres literarisches Werk, das die Subjektivität der Wahrheit und die daraus folgende Brüchigkeit aller Bindungen auslotet.

«Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.» — Heinrich von Kleist

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Beruhigende Ausblicke (c) Hennric Jokeit, OT, 2024

Im gnostischen Zwielicht

Seit der Antike hat die Zumutung, in einem gnostischen Zwielicht zwischen Hypothesen und Halluzinationen zu existieren, die Gemüter von Philosophinnen und Philosophen, Künstlerinnen und Künstlern, Literatinnen und Literaten umgetrieben. Das ständige Gespenst des Zweifels an der Möglichkeit von Gewissheit ist das Leitmotiv abendländischen Denkens, das in unseren Tagen – im Zeitalter der generativen künstlichen Intelligenz – eine ganz neue, beunruhigende Dringlichkeit gewinnt. Denn die generative künstliche Intelligenz ist nichts anderes als die zweifelsfreie Verdinglichung dieses epistemischen Zweifels. 
 
Der Bruch mit der Realität beginnt schon in jenem Moment, da Licht und Schall in denselben universellen Code elektrischer Nervenimpulse transkribiert werden. Zwar ist die Umwandlung akustischer Schwingungen in neuronale Signale durch die feinen Haarzellen der Cochlea (Hörschnecke) ein relativ simpler Akt, doch bedarf es für den Sehsinn ungleich komplizierterer elektrochemischer Reaktionen. Ähnlich dem Hören nimmt auch das Sehen nur ein schmales Band der vorhandenen elektromagnetischen Schwingungen wahr. Wir sehen nur, was auf einem Lichtspektrum von 380 bis 780 Nanometer erscheint.

«Der Bruch mit der Realität beginnt schon in jenem Moment, da Licht und Schall in denselben universellen Code elektrischer Nervenimpulse transkribiert werden.» — Hennric Jokeit

Unsere evolutionär bedingte Vorliebe für Grüntöne

Die retinale Basis des Sehens liegt im Zusammenwirken der lichtempfindlichen Zapfen und Stäbchen: Während letztere das skotopische, achromatische Dämmerungssehen ermöglichen, dienen erstere dem photopischen Farbsehen im Tageslicht. Dabei korrespondieren drei Zapfentypen mit den Spitzen der Empfindlichkeit für kurz-, mittel- und langwelliges Licht, das wir als Blau, Grün und Rot erleben.
 
Es mutet paradox an, dass wir unsere technologiegesättigte Gegenwart mit einer Netzhautarchitektur zu erfassen suchen, die in einer davon denkbar weit entfernten Umwelt geformt wurde. Wie ein Relikt aus der Vergangenheit, ein atavistischer Tick, zeigt die Technikgeschichte eine auffällige Vorliebe für jene Farbtöne, die bei der selektiven Verfeinerung unserer visuellen Fähigkeiten privilegiert wurden.

Bemerkenswert ist, dass sowohl Stäbchen als auch Zapfen besonders empfindlich auf Grüntöne reagieren. Dies spiegelt eine evolutionäre Anpassung an das dominierende Farbspektrum der vor- und frühzeitlichen Lebenswelt wider. Die effiziente Nutzung des spärlichen Restlichts, eingebettet in die grünen Splitter des gefilterten Sonnenlichts, ermöglichte unseren Vorfahren nicht nur ein ermüdungsfreies Sehen im fahlen Dämmerlicht der Urwälder und Savannen, sondern vor allem ein präzises Erkennen von Objekten vor grünem Hintergrund.
 
In einer Umwelt, in der Tarnung und Mimikry allgegenwärtig waren, versprach diese retinale Prädisposition einen entscheidenden Vorteil im Wettstreit um Nahrung und auf der Flucht vor Feinden. Doch hat diese Vorliebe für Grün, die wir dem blinden Wüten der natürlichen Selektion verdanken, auch unsere Kultur infiltriert? 

Einen subtilen Ausdruck findet sie fraglos in der Beliebtheit grüner Sonnenbrillen, die gegen das sengende Licht einen wohltuenden Kontrast bieten. Ihre Gläser harmonieren mit der Physiologie unserer Netzhaut, die im grünen Teil des Spektrums maximale Sensitivität, Detailauflösung und Kontrastempfindlichkeit besitzt. Durch Filterung der bläulichen und violetten Frequenzen, die das Auge irritieren, ermöglichen sie ein entspannteres und klareres Sehen. Doch färbt diese retinale Fixierung womöglich auf weitere Phänomenbereiche ab? 

«Hat die Vorliebe für Grün, die wir dem blinden Wüten der natürlichen Selektion verdanken, auch unsere Kultur infiltriert?» — Hennric Jokeit

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Licht und Wachstum (c) Hennric Jokeit, OT, 2024

Die Rolle der Farbe Grün in der Technologie

Es scheint eine enge Verbindung zwischen der Farbe Grün und den frühen Anzeigetechnologien zu geben. In den 1930er Jahren zeigten sich grüne Leuchtstoffe in Kathodenstrahlröhren als die sparsamsten und hellsten. Grüne Radarschirme erlaubten es bald, Himmel und Meer zu durchdringen und erwiesen sich in Luft- und Schifffahrt als unverzichtbar.
 
Wenig später hielten die grünen Oszillographen Einzug in die lebenswichtigen Operationssäle der Industrie, in Labors und Krankenhäuser. In den Wohnzimmern leuchtete derweil das magische «grüne Auge» der Röhrenradios und signalisierte gute Abstimmung auf Kurz-, Mittel- und Langwelle.
 
Der erste digitale Frühling Ende der 1970er Jahre brachte nicht nur grün leuchtende Bildschirme für Großrechner und die ersten PCs in die Büros, sondern auch eine neue Lichtquelle. Grüne Leuchtdioden (LEDs) eroberten nach und nach den Markt und blinkten in Geräten wie Taschenrechnern, Digitaluhren und Anzeigetafeln. Die Gründe für ihre rasche Popularität waren die gleichen wie bei den Bildschirmen: scharfe Kontraste, ermüdungsfreies Lesen und eine fast magische Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fesseln – alles Früchte unserer evolutionär-genetischen Schwäche für die Farbe Grün.
 
Mit der massenhaften Verbreitung von Farbdisplays in Smart Devices scheint diese retinale Affinität etwas in Vergessenheit geraten zu sein. In einer Welt kommerzieller Corporate Designs ist das visuelle Branding oft wichtiger als die ergonomischen Bedürfnisse des menschlichen Auges. Und doch lebt Grün dort weiter, wo Zuverlässigkeit, Konzentration und höchste Verantwortung im Vordergrund stehen: In den Cockpits von Hochgeschwindigkeitszügen, in den Schaltzentralen kritischer Infrastrukturen und des Militärs. Überall dort, wo keine Sekunde des Zweifels geduldet wird, ist Grün die Farbe der Wahl.

«Überall dort, wo keine Sekunde des Zweifels geduldet wird, ist Grün die Farbe der Wahl.» — Hennric Jokeit

Grün in der Kunst

In der Kunstgeschichte galt Grün lange als diffizile Farbe, denn stabile grüne Pigmente blieben rar und teuer. Als sie endlich verfügbar waren, avancierte Grün zur Schlüsselfarbe naturalistischer Landschaftsmalerei. Erst in der Moderne befreiten Maler wie Matisse, Derain, Kirchner und andere das Grün von seinen mimetischen Fesseln.
 
Sie lösten seine traditionelle Bindung an die Naturidylle und entdeckten seinen emotionalen Ausdrucksreichtum jenseits der bloßen Repräsentation. Doch die vielschichtige Geschichte dieser chromatischen Nuance harrt noch einer umfassenden Erforschung.
 
Die Post-Avantgarde hingegen trieb ihre ästhetische Reformation bisweilen dezidiert im Grünen voran: Ellsworth Kellys abstrakte Formen blieben durch Grüntöne sinnlich im Diesseits verankert. Olafur Eliassons «Green River» provozierte, indem er einen urbanen Flusslauf in giftiges Grün tauchte. Thomas Ruffs grüne Aufnahmen einer Nachtsichtkamera nahmen einen technoiden, diagnostischen Blick vorweg. Selbst bei der Darstellung von Hauttönen spielte Grün eine überraschend wichtige Rolle, wie die Porträts von Marlene Dumas und Maria Lassnig zeigten.
 
Die immersiven Lichtinstallationen von Bruce Nauman, James Turrell, Dan Flavin bis zu Pamela Rosenkranz loteten die Grenzen der monochromen Wahrnehmung in toto aus. Sie badeten die Besucher in theatralischem Grün und eliminierten ihre sensorischen Gewissheiten, um sie beim Verlassen ihrer grünen Kammern mit rosafarbenen Nachbildern zu verabschieden.


«Grün ist ein Symbol dafür, dass wir bei aller gestalterischen Virtuosität der somatischen Schwerkraft der Evolution nie ganz entkommen.» — Hennric Jokeit

Ein grüner Seidenfaden zieht sich durch die Kultur

So zelebriert unsere Kultur in Technik, Kunst und Mode stets wieder aufs Neue den transzendenten Zusammenhang von evolutionärer Disposition und innovativem Gestaltungswillen. Ein unterschwelliges Gespür für die natürliche Verankerung des Rationalen – gleichsam ein grüner Seidenfaden, der sich von den Emblemen und Schriften des Islam bis zu den kanonischen Texten des Abendlandes, von Kellers bildungsromantischem «Grünen Heinrich» über Kleists quälende «Grüne Gläser» bis zu den Displays der Gegenwart durch die Geschichte der Zivilisationen spinnt.
 
Grün ist dabei auch ein Symbol dafür, dass wir bei aller gestalterischen Virtuosität der somatischen Schwerkraft der Evolution nie ganz entkommen. Doch in seinen vielschichtigen Bezügen zwischen retinalen Prämissen und sozialen Bedeutungen birgt das chamäleonhafte Grün das Potenzial für einen Diskurs, der das Sinnliche mit dem Wissenschaftlichen, Künstlerischen, Religiösen und Politischen zu verweben vermag. Andere Farben mögen angesichts dieses Facettenreichtums vor Neid erblassen. 

Ob wir in die fluoreszierenden Tiefen eines Cockpits blicken, die Welt durch eine smaragdgrüne Sonnenbrille betrachten oder uns in den hypnotischen Mustern von Warhols Camouflage-Prints verlieren – Grün zieht uns unwiderstehlich in seinen Bann. Es weckt in uns ein Gefühl der Verbundenheit, eine instinktive Resonanz, die an unsere primatischen Wurzeln erinnert. So wie das Grün in seinen unzähligen Schattierungen die Natur durchdringt, so tragen auch wir, bei aller Subjektivität unserer Wahrnehmung, diese gemeinsame unbewusste Nuance in uns.
 
Letztlich steht unsere Affinität zu Grün für die kreative Fähigkeit unseres Gehirns, aus den subtilsten Schwingungen des Lichts Bedeutung und Schönheit zu schöpfen, und erinnert uns zugleich an die Voraussetzung unserer Natur – den ewigen Kreislauf von Wachstum und Erneuerung grünen Lichts.

Hennric Jokeit
Prof. Dr. Hennric Jokeit (geboren in Stralsund) ist ein Neuropsychologe und Fotograf, der in Zürich lebt und arbeitet. Jokeit ist Titularprofessor für Neuropsychologie an der Universität Zürich und leitet das Institut für Neuropsychologische Diagnostik und Bildgebung an der Schweizerischen Epilepsie-Klinik. Seit 2000 ist er auch fotografisch tätig. Seine Fotografie setzt sich kritisch mit gesellschaftlichen Prozessen sowie mit den Grundlagen von Wahrnehmung und Fotografie auseinander. Von ihm sind bisher drei Fotobände erschienen. Seine Arbeiten werden international in Galerien, auf Messen und Festivals ausgestellt. 
Quellen und Verweise
[1] 1801, Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, 4 Bände, herausgegeben von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Frankfurt a. M. 1987–97, IV, 205

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