Text — Miriam Zlobinski Projekt & Buch — Julia Schubert
Kartoffelsalat und Würstchen - bei vielen Deutschen wird diese Kombination mit einem Datum verbunden: dem 24. Dezember, Heiligabend. Es geht aber nicht nur um das, was wir essen, unsere Nahrungsaufnahme begleitet auch immer eine Art der Präsentation. Integraler Bestandteil der «Essenskultur» ist die Tafel und ihre Gestaltung, sie vermittelt ein Gefühl für den Anlass und schafft für die Gemeinschaft um den Tisch den Rahmen. Das Festesssen als optisches Ereignis untersuchte Julia Schubert im «Visual Society Program», einer Kooperation des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und der Universität der Künste (UdK).
Weihnachten diente als Ausgangspunkt für die Untersuchungen zu Fleischkonsum und Esstraditionen. Julia Schubert hatte bei sich selbst beobachtet, dass sie zwar meistens vegetarisch aß, an Weihnachten aber doch Fleisch zu sich nahm. Die Frage war, ob es anderen auch so ging und falls ja, welche Gründe das haben könnte.
In der Zusammenarbeit wurde ein sehr bildorientiertes Forschungsdesign gewählt, um weihnachtliche Tisch- und Esstraditionen der Analyse zugänglich zu machen. Die Fotografie war das Medium, das den unmittelbarsten Zugriff auf die Wirklichkeit ermöglichte. «Die Fotografien der Weihnachtstische, die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Untersuchung gemacht wurden, sind meistens nur einfache Handyaufnahmen, manchmal leicht verwackelt, zu hell oder zu dunkel – es ging nicht um «gute» Fotos. Das Interessante war, dass so Personen partizipativ miteinbezogen werden konnten und einen völlig anderen Zugang erhielten als es ein Interview je hätte leisten können», so Schubert.
Wie hoch ist der
«Feierlichkeitscore» ?
46 Fotos von Weihnachtsessen wurden ausgewertet. Die gesammelten Fotos geben keinen voyeuristischen Einblick in private Weinachtsmilieus, sondern einen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bewusst gewählten, da sie freiwillig dem Auftruf der Forschergruppe folgten. «Die Fotos, die wir von den Weihnachtstisch-Inszenierungen erhielten, boten uns nicht nur quantitativ viefältiges Material, sie boten zugleich Einsichten in soziale Lebensräume, ganz äußerlich in deren Materialität, und ließen Rückschlüsse auf mögliche soziale Handlungen zu.»
«Was wir mit den Bildern machen wollen und wie wir sie auswerten könnten, war erstmal noch gar nicht klar und ergab sich erst in der Betrachtung der Bilder», beschreibt Schubert die offene Herangehensweise. Alle Weihnachtsessen zeigten in unterschiedlichem Grad die Bemühung, Feierlichkeit zu inszenieren. Daran schloss sich die Frage an, woran man den Grad der Feierlichkeit eigentlich festmachen kann – daraufhin entwickelte Schubert den «Feierlichkeitsscore». Die Fotos wurden nach bestimmten Kriterien bewertet und es wurden Punkte verteilt. Es ging um die Tischdekoration (Kerzen, Serviette, Tannenzweige, …) und die Aufwendigkeit des Essens (Gänge, Nahrungsmittel pro Gang).
Es eröffneten sich weitere Fragen. Zum Beispiel: Wird die Farbe Braun mit Fleisch assoziiert? In welchem «Farbumfeld» wird gerne gegessen, in welchem weniger? Würde man lieber in einem vegetarischen Farbraum Fleisch essen? Oder auch umgekehrt: Essen Vegetarier auch lieber in einem «Fleischfarbraum»? Diesen Fragen ist die Forschergruppe in zwei weiteren visuellen Studien nachgegangen.
Wie vornehm ist das Arrangement der Gerichte, oder wie ausgelassen? Gibt es Alkohol, gibt es Fleisch?
Ist Braun eine appetitliche Farbe? In welchem farblichen Umfeld isst man gern?
Das visuelles Fazit gibt die bevozugten Farben des feierlichsten Weihnachtessens an
Für die Forschergruppe war die Annäherung an das Thema beginnend mit den fotografischen Dokumentationen zunächst ungewohnt und die Erwartungen offen. Das Experiment für die multidisziplinäre Arbeit wurde belohnt, es führte zu Ergebnissen, die sich von Resultaten mit bisher üblichen und bekannten soziologischen Methoden unterschieden.
Passend zu den primär visuellen Untersuchungen erschienen die Ergebnisse in Form eines gestalteten Buches. «Natürlich, um es auf den Esstisch zu legen.»
Julia Schubert
Julia Schubert studierte Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Mainz und absolvierte ein Postgraduiertenstudium an der Universität der Künste (UdK) Berlin in der Klasse "Visuelle Systeme". Als freiberufliche Designerin sammelte sie Erfahrungen in verschiedenen Designagenturen. Zurzeit arbeitet sie für die Süddeutsche Zeitung als Infografikerin und Illustratorin.
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