Im Kopf
Dorothea Langes «Migrant Mother» – im Neurodispositiv
Text — Hennric Jokeit – 15.11.2021
Nur wenige Fotografien sind heute so berühmt wie Dorothea Langes Portrait «Migrant Mother» von 1936. Daniel Blochwitz beschreibt in seinem Beitrag für ReVue, welche Voraussetzungen, Zufälle und nicht alltägliche Bedingungen zur wachsenden Popularität des Bildes beigetragen haben. Würde auch ein neuro-ästhetischer Deutungsrahmen (siehe auch ReVue: Neuroikonographie Teil I und Teil II) helfen können, die Ikonisierung dieses Bildes besser zu verstehen?
Langes Portrait weist inhaltliche und formale Bildeigenschaften auf, die das Bild ästhetisch interessant und emotional berührend erscheinen lassen. Stärker jedoch als diese visuellen Merkmale gewichtet Daniel Blochwitz die Bedeutung historisch schicksalhafter, gesellschaftlicher Konstellationen, wie der Großen Depression (1929-41) und biografisch unvorhersehbarer Ereignisse, wie dem Fotoauftrag einer Bundesbehörde (FSA) oder der persönlichen Begegnung mit Florence Owens Thompson, der «Migrant Mother».
Damit verschränkt sich die Geschichte des Bildes unhintergehbar mit seiner aktuellen Wahrnehmung. Der Ort (Museum), Zweck (Bildung), Status (Ruhm) und Sichtbarkeit (Öffentlichkeit) prägen wesentlich die kognitive und affektive Bewertung des Bildes durch uns heutige Betrachterinnen und Betrachter.
Die Stärke der emotionalen Reaktion, vermittelt durch limbische Hirnstrukturen, die Dauer und Intensität der kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung mit dem Bild und seine Neuartigkeit formen erst eine dauerhafte Spur im Langzeitgedächtnis der Betrachter.
Werden Inhalte dieser visuellen Gedächtnisspuren sozial geteilt, dann bilden sie ein kollektives Bildgedächtnis, das einerseits ein häufiges Wiedererkennen ermöglicht und andererseits, wie ein Meme, zur Verbreitung und Ikonisierung des Bildes beiträgt. Soziale Medien des Internets, wie Pinterest, Instagram, Facebook, Twitter u.a. fungieren dabei heute als individuell, kollektiv und öffentlich zugängliche Bildgedächtnisse.
Diese vermögen, globalisiert und zeitlich unbegrenzt Wahrnehmungs- und Wiedererkennungsprozesse in einer Quantität auszulösen, die im Falle von Dorothea Langes «Migrant Mother» in der Prä-Internet-Epoche für vergleichbare Häufigkeiten des Gesehen-Werdens, Jahrzehnte in Anspruch genommen hätte.
Die Ikonisierung von Bildern ist ein kollektiver Prozess der Auswahl und Beglaubigung, der wesentlich durch die Urteile und die Zustimmung von Meinungsführern, Kunstexpertinnen und institutionellen Gatekeepern bestimmt wird. Weder die Autorin des Bildes, noch das Bild selbst, noch ein einzelner Betrachter kann diesen Prozess der kanonisierten Ikonisierung in Gang setzen oder aufhalten.
Es handelt sich um einen interdependenten sozialen Netzwerkprozess, der Erfahrungen und Meinungen integriert und sie gleichzeitig formt und wahrscheinlich in seiner Funktion prädiktiven Kodierungsprozessen (Siehe ReVue «Neurowissenschaftliche Perspektiven einer Bild-Ästhetik. Teil 2») nicht unähnlich ist.
Aus systemischer Sicht finden diese Rückkopplungen und Resonanzen zwischen den neurowissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Ebenen der Wechselwirkung von Subjekt, Kunstobjekt und Umwelt statt.
Die Predictive Coding Theory (PCT) (Siehe ebd.) rückt ein subjektives mentales Modell ins Zentrum, das innerhalb eines fließenden sozialen Bedeutungsrahmens des Kunstobjekts mit diesem in Interaktion und Resonanz tritt. Die dabei entstehenden Empfindungen und Kognitionen können im schönsten Falle zu einem erinnerbaren Kunsterlebnis werden.
Die möglich scheinende Integration von neurowissenschaftlichen, wahrnehmungspsychologischen und sozialpsychologischen Erkenntnissen über die Schnittstelle der Predictive Coding Theory mit sozialwissenschaftlichen, kunsttheoretischen und kunsthistorischen, aber auch verhaltensökonomischen Modellen könnte eine neue «prädiktive» Ästhetik ermöglichen, die die Ikonisierungsgeschichte eines Bildes wie «Migrant Mother» besser zu verstehen hilft.
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