Kolumne
Café Herbst oder die Reise zum Amazonas. Dies ist die Geschichte des Zuckerbäckersohns Edgar Herbst, der zum visuellen Aufzeichner avanciert. Er notiert seine Wahrnehmungen des Aufwachsens in der Harzer Natur in der späten Nachkriegszeit und irrt auf unbestimmten Pfaden der Provinzen bis in die Metropolen Frankfurt - Hamburg - Berlin. Anerkennung suchend und Aufmerksamkeit erweckend, mit zerfleddertem Smoking und brandlöchrigem Seidenschal, selten ohne Hut, schenkt er sein Auge der gesellschaftlichen Dekadenz, übermütig in der Darstellung seines Gegenübers und seiner selbst. Aus diesem geistigen und materiellen Archiv soll - schonungslos und gleichsam von Selbstironie gezeichnet - ein Buchwerk panoptischer Fülle entstehen. Aufgezeichnet von Edgar Herbst.
Teil XII – 23.08.2024
Text und Fotos — Edgar Herbst Redaktion — Claudia Kursawe
Dieser Tiger kennt den Dschungel nicht, nicht die Steppe, nicht die Prärie. Kein Zebra hat er gerissen, kein Wildschwein, kein Reptil, den Kadaver nicht den Aasgeiern zum Fraße serviert.
Majestätisch und in anmutvoller Schönheit steigt er elegant aus dem von Rauchschwaden umnebelten Eisengitterkäfig und legt sich in voller Pracht seines gewaltigen Wesens im dunkelgestreiften, goldbraunen Fell auf die Bühnenbretter des Palastes nieder, der seinen Namen trägt.
Rauchschwadenumwobener Tigerkäfig 1991
Im Januar 1989 schritt ich durch eine dieser Winternächte inhaltsloser Euphorie, in der sich ein allein vom Zwielicht nächtlicher Schattenwelten inspirierter Nachtschwärmer treiben lässt, ohne auf den hektischen Kompass zu schauen. Ich begab mich auf den schwarz-blauen Pfad der Illusionen mit den Spitzlichtern gülden strahlender Laternen. Es war ein heiteres und gleichsam ohnmächtiges Wandeln unzähliger Meter auf dem Asphalt und so mancher Einkehr in die Bars, Clubs und Kaschemmen der Metropole am Main.
Zwar hatte ich ein halbes Jahr zuvor mein Studium der Fotografie an der ehrwürdigen Darmstädter Mathildenhöhe aufgenommen, doch noch fahndete meine Bilderseele im aufgeregten Pool der Wahrnehmungen, nach jenem Bild im Außen, welches sich mit meinem Inneren verbindet, verbündet, liebevoll vereint.
Bei einem klassischen Film-noir-Frühstück, bestehend aus schwarzem Kaffee und einer früh im Hals kratzenden Zigarette nach einer jener heftig durchzechten und durchtanzten Nächte, entdeckte ich in einer Frankfurter Gazette ein Stellenangebot, das wie ein Meteorit in mein noch berauschtes Sein einschlug.
Stellenanzeige in der Frankfurter Rundschau im Januar 1989
Dem Manager des Hauses, Robert Mangold, genügte meine spektakuläre Referenz der verinnerlichten Erfahrung als Minibarkellner, bei der ich im Auftrag der deutschen Schlaf- und Speisewagengesellschaft geschäftig Reisenden in überfüllten Zügen heißen Kaffee, warme Würstchen und Mandelhörnchen servierte. Nach einvernehmlichen Gedanken sah ich mich wenige Tage später nebst einem üblichen Kellner-Dress noch mit einer Weste aus imitiertem Tigerfell geschmückt.
Nun galt es für mich, einen Parcours aus eng gestellten Bistrotischen schadlos zu überwinden, auf deren Marmorplatten spitz zulaufende Lämpchen leuchteten, während sich darunter die lang ausgestreckten Glieder und das Schuhwerk einer feinen, zum Vergnügen bereiten Gesellschaft befanden. Tänzelnd balancierte ich dabei ein Tablett samt erlesener Spirituosen und kredenzte diese stilvoll beim Erreichen des Zieles.
Kellner in Tigerweste 1989
Gäste eines Großunternehmens, das zu einer Gala in den Tigerpalast geladen hatte
Mich übermannte der Reiz, die visuellen Wahrnehmungen jenes Spieles zwischen den Schaubietenden und den Schaulustigen fotografisch zu dokumentieren, mit meiner Kamera einzufangen. Und so konnte ich mich alsbald als fotografierender Kellner etablieren.
Im Hause «Tigerpalast» und in den Seelen der Gründer Margareta Dillinger, Johnny Klinke und Matthias Beltz lebte die Vision, sich an die Blütezeit der Varieté-Theater der 1920er und 30er-Jahre anzulehnen, um sich selbst wie auch das Publikum durch artistische, akrobatische, tänzerische, musikalische und magische Darbietungen auf allerhöchstem Niveau zu verzaubern und in die Welt der sicht- und fühlbaren Illusion zu entführen.
Die Gründer: Johnny Klinke, Margareta Dillinger, Matthias Beltz
Mit dem Ausruf «Égalité, Fraternité, Varieté» lässt der Conférencier Matthias Beltz mit revolutionärem Unterton keinen Zweifel an der Losung der Zeit aufkommen. Eine fein betagte Dame reicht ihm zum Handkuss ihren weißen seidenen Handschuh.
Georgette Dee haucht schmetternd eine Interpretation von Greta Kellers «Wenn die Sonne ...», fügt speziell für das hiesige Publikum hinzu «hinter den Banken versinkt ... », und lässt ihr überfülltes Champagnerglas vergnüglichst nahe der Bühnenkante überschwappen.
Conférencière Georgette Dee 1992
Flamenco ertönt, explosive Lebensfreude, Rebellion, Schmerz, Verzweiflung, schreiender Gesang im Rhythmus klatschender Hände, lautes Schuhwerk auf bebenden Brettern, klirrende Gitarren im Stolz andalusisch-orientalisch anmutender Haltung, ungezähmter Wildheit menschlicher Natur.
Flamencotänzerinnen 1991
Ravels Bolero durchdringt, entzündet, entzückt, erregt durch virtuelle Klänge den Saal zur Vorführung des Schwarzen Theaters im übersinnlichen Ostinato, erweckt erotische Fantasien. Gestalten und Figuren schweben, Formen und Dinge bewegen sich entgegen dem physikalischen Gesetz der Erdanziehungskraft. Das Auslösen des Blitzlichtes auf meinem Apparate wäre Entlarvung, Verrat, gar ein Mordanschlag auf die Vollendung der Sinnestäuschung.
Schwarzes Theater «Omar Pascha» aus Paris 1990
Ein Seil zieht sich mitten durch den Raum der amüsierfreudig Staunenden in feinem Zwirn und Abendrobe, umsäumt von feuchtglänzenden Champagnerkübelständern. Filigran widmen sich die Lufttänzer dem herausragenden Drahtseilakt mit Bravour.
Stammgäste bei jeder Premiere: Frau Meyer mit ihrem Vater
Seiltanz über den Köpfen des Publikums im Saal
Der Legende Francis Brunn begegne ich nach seinem ekstatischen Auftritt der Jonglage von Bällen, Kegeln und Ringen, vorgeführt auf einem Einrad, allein in der Betrachtung schwindelerregend an der Bar. Seine Augen fixieren meine Kamera und diese verschlingt ihn im Blitzlicht des Wotans.
Jonglage-Legende Francis Brunn an der Bar im Tigerpalast 1989
Die dem Tiger vertrauten Dompteure des Cirque d’Hiver Bouglione zelebrieren atemberaubende Darbietungen mit der archaisch wirkenden Raubkatze zwischen Anspannung, Zärtlichkeit und scheinbar drohender Gefahr, welche das erstarrte Publikum mit tobendem Applaus würdigt.
Tigershow des Cirque d’Hiver Bouglione Paris 1992
Ein Gedanke überkommt mich angesichts des hautnahen Erlebens des «Kosmos Tigerpalast», seiner Großfamilie aus Künstlern und seiner treuen, inspirierten Bediensteten: Ist nicht auch das echte Leben ein Spiegel des «Theatre de Varietés»?
Max Raabe mit Monika Rettschnick (FAZ-Magazin) in der Palast-Bar 1992
Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki im Tigerpalast-Restaurant 1991
Direktor Johnny Klinke mit dem damaligen Umweltminister Joschka Fischer 1992
Auch für mich als eigensinnig reisenden Bildermacher galt es auf so manchem Seil zu tanzen und zu balancieren, in absurden Situationen mit den Dingen zu jonglieren, den Clown zu spielen, wenn auch mehr den Narren und natürlich aus Herzenslust zu tricksen und zu täuschen.
Edgar Herbst, fotografierender Kellner an der Bar (Foto: Robert Mangold)
So lebt in mir aus tiefstem Herzen des Herbstes seit langem die Dankbarkeit an die zauberhafte Direktorin Margareta, den Direktor Johnny (dem als einem der wenigen Menschen erlaubt sei, mich in seiner tiefen Stimme «Eddy» zu nennen) und an Robert für das Vertrauen in mein Wirken als Kellner und Fotograf.
Der Frankfurter Tigerpalast war die Keimzelle meiner Gesellschaftsfotografie. Im spirituellen Sinn steht der Tiger als Herrscher des inneren Feuers, der einen ermutigend auffordert, den Flammenkreis zu durchbrechen, um zum eigenen inneren Kern zu gelangen.
Finale auf der Bühne des Tigerpalastes 1992
Teil IX – 21.05.2024
Text und Fotos — Edgar Herbst Redaktion — Claudia Kursawe
Das Meer ist nicht blau, der Teppich ist nicht rot!
Der Zierläufer in Zinnober, einst nur den Göttern vorbehalten und von jenen nur nackten Fußes zu betreten, wandelt sich in Cannes in einen reißenden, schäumenden Strom. Auf diesem werden lichtbeschienene Menschenwesen zunächst entlang, dann die steilen Stufen zum Palais des Festivals hinauf und elegant hineingespült - in den Salon des feurigen Drachenschlundes, wo mannigfaltige Vorführungen cineastischer Werke, poetischer, gesellschaftlicher, gar surrealer Natur ausgestrahlt werden.
Die Herausragenden ihrer Machart kürt eine königsthrongleiche Jury in einem strengen Wettbewerbsverfahren mit güldenen Palmenzweigen – im biblischen Sinnbild stehend für Friede, Freude, Sieg oder im heidnischen, zu primitiverem aber nicht unbedeutenderem Zwecke als Schutz des Hauses vor dem Feuerteufel.
Auf beiden Uferseiten mit gespannten dicken Seemannskordeln postieren sich Hundertschaften von Anglergesellen des Visuellen. Ihre verführerischen Köder in Form dauerblitzlichterzeugender Apparate verheißen edlen Ruhm, aber auch Verrat.
Lackschuh auf rotem Teppich, Cannes 2000 © Edgar Herbst
Die Vorbeitreibenden trugen Namen höheren Bekanntheitsgrades wie der mir persönlich unbegreifliche Frauenschwarm George Clooney, ein fast tanzender Al Pacino, eine in ihrem Lächeln verzauberte Liv Tyler Arm in Arm mit dem Regisseur Bernardo Bertolucci, nebst mehr oder weniger bekannten Filmgrößen - je mehr weniger, desto glamouröser in ihrer Selbstdarstellung.
Liv Tyler und Bernardo Bertolucci vor der Aufführung ihres Fims «Gefühl und Verführung», Cannes 1996 © Edgar Herbst
Nach elendiger Wartezeit huschte auch die Popkultur Ikone Michael Jackson, wie ein flinker Pfeil der Apachen, hurtig über den Parcours. Danach lag das wilde Gewässer in aller Stille da und nur die südfranzösischen Regentropfen bildeten ihre Ringe im Nass und beim Nähertreten entdeckte ich das Spiegelbild meiner selbst.
Roter Teppich im Regen, Cannes 1997 © Edgar Herbst
Melancholie und Tristesse wurden in meinem verschwommenen Antlitz sichtbar. Mein Herz war gebrochen und schlug schwer – im Kinosaal meines inneren Filmfestivals quietschte der Projektor in unregelmäßiger Drehung der Filmrolle und spielte einen lauten Stummfilm auf das unschuldige Weiß der Leinwand – mein eigenes schmerzhaftes, ganz persönliches Drama der Liebe.
M. im Hamburger Hafen, meine Sehnsucht, meine Liebe, mein Schmerz, 2000 © Edgar Herbst
M., blond wie meine Mutter und verführerischer Natur ließ sich auch vom Gauklergewerbe der Schauspielerei verhaften. Doch ihre Flughöhe war eine andere und sie beschimpfte mich oft genug, warum ich mich so schamlos und selbsterniedrigend der «Yellow Press» verschrieben habe.
Ich aber meinte, in meiner inneren Farbpalette einen Tupfer Tiefrot hineinmischend, mittels Farberhöhung zur «Orange Press» zu gelangen, indem ich dem scheinbar inhaltslosen Gewerbe die Bedeutung des Zeitdokuments hinzuzufügte.
Dennoch! Wie gerne hätte ich sie als wirklichkeitsgewordene Illusion, als mitteleuropäische Fata Morgana der Sinne im Strom von Cannes erscheinen sehen und sie auf einem fliegenden orientalischen Teppich entführt. Als Opfergabe für die Götter Amor und Aphrodite, die das Reich der Liebe bewachen und befeuern, wäre es mir ein leichtes gewesen, meine gesamte Fotoapparatur im Ozean zu versenken.
Filmparty in einer Villa in den Bergen über Cannes, 1997 © Edgar Herbst
Das Hotel Le Majestic hatte dem slowakischen Model und Schauspielerin Adriana Sklenaříková - Karembeu, die Anvertraute eines französischen Welt-Fußballers, einen kleinen Salon zur Verfügung gestellt und zur fotografischen Session geladen.
Nach ihrem Eintreten, bildeten die Fotografen schnell einen Kreis um sie herum, aus dem sie nicht entfliehen konnte und auch nicht wollte, um sich von den Gierenden fast durchleuchten zu lassen, bis die imaginären Beutesäcke der Augenpiraten mehr als überfüllt waren.
Das Model Adriana Sklenaříková beim Photo Call im Hotel Le Majestic, Cannes 2000 © Edgar Herbst
Der nostalgisch anmutende Holzsteg des Carlton, der weit ins Meer hinausragt, unterlag ungewohnten Schwingungen. Ein halbes Tausend Fotografen drängelten sich um die beste Position, um der Inszenierung des Altmeisters Helmut Newton gut postiert beizuwohnen, als jener das Supermodel Eva Herzigová auf einer Leiter stehend in Lack, Leder und Peitsche in extravaganter und extraordinärer Pose ablichtete.
Damit dem Motiv auch die Bedeutung eines «Image pleine d’esprit» (geistreiches Bild) eingehaucht wird, fanden die Fotografen sich selbst in Newtons Sucher. Eine Woche später erstrahlte es auf einer Doppelseite in «Paris Match» als das wahre Bild der Filmfestspiele in Cannes.
Der «Meister» Helmut Newton bittet zum «Photo Call»: Eva Herzigová vor der Kulisse des Carlton Hotel, Cannes 1996 © Edgar Herbst
Das Paralleluniversum von «Palm d’Or» fand einige Strandmeilen weiter in Mandelieu la Napoule statt, wo die pornografische Filmbranche zur Zeremonie des «Hot d’Or» eingeladen hatte. Die Kulisse hier, ein schmuckloser Bau, das Hotel Royal Casino als vor Lust lodernder Spot, hemmungs- und hüllenloser weiblicher Sexsternchen, die sich den sichtbaren Voyeuren als Hauptdarstellerin ihrer «Ruckelstreifen» heiterster Stimmung barbusig zeigten.
Oben: Einladung «Hot d' Or», unten: Porno-Darstellerin vor der «Hot d' Or»-Kulisse Royal Casino, Mandelieu la Napoule 2000 © Edgar Herbst
Die beiden jungen Herren, die auf jeder Party zu sehen waren, erwiesen sich rasch als filigrane Handwerker im Fälschen von Pässen und Akkreditierungen.
So kam auch ich zu der unvorhersehbaren Ehre, als Gast auf der wohl bedeutendsten und begehrtesten Party der Filmfestspiele stolzieren zu dürfen. Unter dem Vorsitz der großen Elisabeth Taylor wurde zum exquisiten Finale in den Palm Beach Club zur «amfAR»-Gala «Cinema Against Aids» geladen. Dieses Beisammensein in unglaublicher Dichte von herausragenden Prominenten transformierte das Geschehen: in die Nähe des Olymp.
Das Werk der Herren Fälscher: der «Pass» zur «amfAR»-Gala «Cinema Against Aids», Cannes 2000 © Edgar Herbst
Vielleicht bewegte ich mich etwas unsicher auf dem dünnen Eis glorreichen Parketts, denn die Fotografin Ellen von Unwerth bat mich sogleich an Ihren Tisch und bestellte erlesenste Speisen für den neuangekommen hungrigen Gast.
Foto von Ellen von Unwerth: Edgar Herbst bei der Gala «Cinema Against Aids», Cannes 2000
Auf der Bühne das wahre Spektakel – Elton John, Prinz Albert von Monaco, Kenneth Branagh und Heidi Klum zelebrierten Gesellschaftsspaßspiele und ließen sich auch vom Vertreter weltlichen Zwielichts Adnan Khashoggi applaudierend Lobeshymnen um die Ohren fliegen.
Ich befand mich nicht im Becken der Goldfische, sondern wandelte ungläubig um das Bassin der Koi-Karpfen. Schon bald hatte ich das Bedürfnis, mich selbst zu befreien, um mit meinem helltönenden Motorroller, tief durchatmend und erleichtert ob des Erlebten, auf der nächtlichen Promenade de la Croisette zu flanieren.
Teil X – 18.10.2022
Text und Fotos — Edgar Herbst
Dennis Hopper bei der Verleihung des «Grimme Preis» in Marl, 1999
Der Wartende in diesem ominösen Gewerbe unterliegt der inszenierten Obsession, die ihr Gipfelkreuz darin erscheinen lässt, dass in der Vorstellungskraft, in der Erwartung des Wartenden, in seinem unberechenbaren Zeitvolumen, Traum- und Phantasiebilder wachsen und wuchern, die niemals einen Landeplatz auf dem Planeten Wirklichkeit finden werden.
Ernüchtert notiere ich: Mit Eva Herzigowá werde ich keine romantische Nacht in ihrer luxeriösen Carlton-Suite in Cannes erleben, Prinz Charles wird mich nicht zur Teatime in den Buckingham Palast einladen, um das aktuelle höfische Familienportrait zu besprechen, mit Helmut Berger trinke ich mich nicht in ein melancholisches Delirium, Dennis Hopper tauscht mit mir nicht die wahre Erfahrung der unendlichen Reise eines LSD-Trips, Sophia Loren zeigt mir nicht das intime Fotoalbum ihrer Zeit mit Marcello Mastroianni, Cindy Crawford erlaubt mir keine ungeschminkten Fotografien ihres natürlichen Antlitzes, Michael Jackson führt mich nicht persönlich in das Geheimnis seines ekstatischen Moonwalkschrittes ein, und Arnold Schwarzenegger vertraut mir nicht die Rolle seines Gegenspielers im Terminator X an.
Das Warten ist ein Zeitvertreib in den geheimen Sphären erfüllungssuchender Gehirnatome. Das Herz schlägt im Takt der ureigenen Phantasmen in Ungeduld.
Von oben nach unten: Cindy Crawford im Planet Hollywood in München, 1997; Arnold Schwarzenegger im Hilton Hotel in Berlin, 1996; Eva Herzigowá in Cannes, 1996 und Prinz Charles (heute König Charles III.) in München, 1993
Von oben nach unten: Sophia Loren am Opernball in Wien, 1995; Michael Jackson an den Filmfestspielen in Cannes, 1997 und Helmut Berger am Opernball in Frankfurt am Main, 1998
Teil IX – 18.09.2022
Text und Fotos — Edgar Herbst
Rednerpodium am Flughafen Paderborn-Lippstadt vor der Landung des Heiligen Vaters am 21.Juni 1996, Foto: Edgar Herbst
Im Juni 1996 führte mich meine Reise in die ostwestfälische Provinz Paderborn, wo ich mich dem Geschehen um den hochheiligen Besuch von Papst Johannes Paul II. zu widmen gedachte. Deutlicher formuliert: Der Gedanke, mich als irdisches Wesen dem scheinbar Außerirdischen in meinem Wirken unmittelbar zu nähern.
Schweratmiges Raunen, spannungsgeladenes Seufzen, fröhlichfromme Erleichterung einer Zehntausendschaft von Brüdern und Schwestern, die als Zaungäste das Flughafenareal belagerten, als der Flieger der Alitalia in den tiefhängenden Wolken im Himmel über dem Airport Paderborn-Lippstadt erschien, der Landebahn des Erzbistums entgegenschwebte, bevor der Pilot eine butterweiche, hauchzarte Landung vollbrachte.
Kirchenvertreter beim Gottesdienst am zweiten Tag des Besuchs im Erzbistum auf dem Militärflugplatz Senne bei Lippspringe unter 80.000 Gläubigen,
Zusammengepfercht auf einem tribünenähnlichen Podest, befand ich mich inmitten Hunderter Lichtbildner aus aller Welt. Heißhungrige Linsen fieberten dem Moment entgegen, wo sich die Pforte des Fliegers öffnete, aus dem der angereiste Pontifex die Stiege hinabschreiten würde, um dann den asphaltigen Grund der Landebahn mit seinen Lippen zu berühren, zu liebkosen.
Ein von heller Erregung gespeistes Dauerfeuer der Kameras um mich herum entbrannte in experimentell anmutenden Rhythmen und Klang, nahe der Manier von Maschinengewehren, die langen Teleobjektive fokussiert auf das heilige Objekt der Begierde.
In Schwermut meiner – ob der vielen Meter – Distanz zum Papst versunken, vernahm ich plötzlich ein enthusiastisches Jauchzen der Freude der gewaltigen Zahl an Gläubigen, in deren Richtung der Heilige Vater nun steuerte, ungeachtet des protokollarischen Pfades roter Auslegware, penibelst vom für die Sicherheit zuständigen bischöflichen Generalvikariat in Kooperation mit dem Bundeskriminalamt abgesteckt.
Intuitiv geleitet, vielleicht von höheren Mächten, griff ich zu meiner Nikon FM 2, ließ das Bajonett des Fischaugenobjektives einrasten, der Bildzähler stand auf 26, so dass ich noch zehn «Schüsse» frei hatte.
Ich verließ den sogenannten Fotografenpool, sprang über Sicherheitszäune und befand mich bald am Ende einer dichtgedrängten, tiefgläubigen Menschenmenge. Von dort galt es nun, eine Luftlinie von ungefähr siebzig Metern zu überwinden, um an jene vordere Linie zu gelangen, an der der Heilige Vater flanierte, um den Menschen seine geweihte Hand zu reichen.
Papst Johannes Paul II. begrüßt händeschüttelnd Zaungäste am Flughafen Paderborn-Lippstadt in Entourage mit dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und NRW-Ministerpräsident Johannes Rau, Fotos: Edgar Herbst
Nun bedurfte es eines wahrhaftigen «zu-Kreuze-Kriechens», über morastigen Boden durch einen widerborstigen Wald von Beinen und Füßen, fast militärisch bis an die Front des Geschehens zu robben, nicht ohne Behinderungen, Tritten und Beschimpfungen ausgesetzt zu sein, aber auch einem ermutigenden Staunen über den froschartigen Passagier in der Tiefe.
Unbeugsam in meiner Vision an jener Linie angekommen, leuchtete Karol Wojtyła über mir auf. Ihm nun erschöpft zu Füßen liegend, streckte ich meine Kamera in die Höhe und drückte so andachtsvoll wie möglich den Auslöser, während Karol Wojtyła wie ein geistlicher Geist über mir vorüberschwebte, mit seiner linken Hand meine Linse touchierte, worauf ich als Ungläubiger eine friedliche «Erlösung» fühlte und erfüllt im lädierten Sommergras Paderborner Erde versank.
Karol Wojtyła touchiert mit seiner linken geweihten Hand die Fischaugenlinse meiner Kamera, 21.Juni 1996, Foto: Edgar Herbst
Teil VIII – 15.07.2022
Text und Fotos — Edgar Herbst
Weiß auf Schwarz formieren sich Buchstaben in Souvenir und verheißen dem Betrachter ein visuelles Wirken in der Gesellschaft, der Nacht und der Kunst. Die Karte als eigensinniges Etikett, in der Anmutung eines Grabsteines der Romantik.
Lebendigst wandelnder Geselle, mit dem Kamerawerkzeug in der alten Kamelledertasche, selbsternannter Meister des Diletanttismus in Perfektion diffuser Lichtverhältnisse.
Etikette wahrender Spieler, der Theatralik einer ostentiösen Gesellschaft sich verschenkend gegen Gebühr, flockig hineinschneiend, um sich dem eigenen Tau zu ergeben.
Handgefertigter Lackschuh mit gequälter Sohle, rote Seidenschleife mit Froschmotiven, edlen Rotweines beflecktes weißes Hemd, Clownöl im Haar, Smoking mit Löchern, schwarze Existentialistenbrille; die Zeichen seiner Marke.
Unesco Gala, Neuss 2000, Foto: Edgar Herbst
Zornesgeröteten Antlitzes bestellte der König den Narren an den Fuße seines Thrones. In erregter, brummiger Stimme sprach er:
«Hoffotograf solltest Du spielen, dem Hause zu Gute kommen, die erlesenen Gäste meines Hoffestes in schönem und besonderem Licht erscheinen lassen», und nach einem tiefem, schwerem Atemzug fuhr er fort: «Töricht und irr war Dein Benehmen, Entsetzen lösten Deine Bilder aus, die Gesellschaft fühlt sich demaskiert und fratzenhaft dargestellt…»
Bevor der König in seiner Echauffierung fortfahren konnte, sprang der Narr von seinem Platz in der Tiefe, mit einem breitem Grinsen, auf die von Goldperlen gesäumte Schulter des Königs. Dabei zupfte und streichelte er das herrschaftliche Ohr, damit es seine Worte in Weichheit empfange.
«Mein König, ich war so vernarrt, so sehr verliebt in das Spektaktel Deiner feinen Gesellschaft; meine Irritationen und Provokationen waren ein Experiment, ein Versuch, die Masken zu durchdringen, den Schein aufzuheben, um die Seelen leuchten zu lassen, echte Gefühle wie Freude und Melancholie zu entdecken, der wahren Liebe nahe zu kommen».
Verwirrt, doch friedlich, gar milde gestimmt, orderte der König zwei Kelche edlen Weines, reichte eins dem Narren, um die Gefäße klingen zu lassen. «Auf die Liebe», feuerte der König aus seinem Munde.
Der Narr, Frankfurt 1996, Foto: Johannes Hofmann
Teil VII – 15.06.2022
Text und Fotos — Edgar Herbst
Auf Fest und Feiern wollt’ er tanzen
Mit der Kamera im Sack
Blitze stachen wie die Lanzen
Herrschaften in Rock und Frack
Erfüllt vom Elixier der Droge
Rast er über das Parkett
Ungeachtet jeder Woge
In der Huren Himmelbett
Angetrieben von dem Abbild
Seiner Selbst und vielen Andern
War die Kamera sein Schild
Komplizin, Freundin gar beim Wandern
Sehen sei das Maß der Dinge
Unscharf ist ihm angenehm
Gleich die Schärfe mit ihm ringe
Gnadenlos ist die Bohème
Über Stock und Stein und Pole
Verwirrung innerst tief im Geist
So der Teufel ihn noch hole
ist doch schon er ihm verschweißt
Was nur treibt das zarte Wesen
Einst entsprungen aus dem Harz
Wollt’ an stachlig’ Grenz’ genesen
Götter deuten tiefes Schwarz
Feuer, Lust, Begierde inne
Auf der Wahrheit Spuren Suche
Landend in der Weltenrinne
Abgeschworen jedem Fluche
Der Reisende, er suchte Liebe
In heller Kronenleuchter Schein
Verdrängend jene Peitschenhiebe
Die schon früh ihn machten klein
Nun stapeln sich in Mengenlage
irr’ empfunden Übersicht
Gesell’ und Kaiser mancher Tage
Haben doch noch kaum Gewicht
Schlösser, Burgen und Paläste
Katakomben und Spelunken
Ja! Das waren die Geäste
Herberg’ eigen, freudetrunken
Die Frage nach dem Ich, die quälet
Angst und Zweifel angefüllt
Des Raumes Reise schwer verfehlet
Utopien eingehüllt
Vater, Mutter, fern wie Sterne
Zwar entstanden aus dem Saft
Traurig, einsam, allzu gerne
Kinder hat er nicht geschafft
Geliebte tauchten auf und gingen
Zart liebkost im Mondesschein
Doch es fehlte an den Ringen
Die bedeuteten das „Ein“
Weibes Munde ein Geheimnis
Einzudringen reicht nicht aus
Tief zu fühlen sei kein Wagnis
In diesem wundersamen Haus
Krieg tobt im Inneren der Seele
Friedensfahne auf „Gut Glück“
Furcht und Hoffnung gar nicht fehle
Heilungspfad nur Stück für Stück
Körper, Schmerzen auszuhalten
Nerven, die sind ausrangiert
Schreie, Seufzer zu verwalten
Patient sein, völlig ungeniert
Empfindlichkeit als solche über,
Reize, ja, die reizen ihn
Sinne werden manchmal trüber
Gedankenfieber wird zum Spleen
Wirken in manch Varianten
Das Wort der Arbeit ist ihm fremd
Passioniert dem Zugewandten
So Pekunia nährt das Hemd
Der Kunst als dieser ist er nah
So sich das Wesen offenbare
Zeigt was in der Nacht geschah
Das Werk ins Herz sticht, nicht als Ware
Frankfurt, Hamburg, dann Berlin
Triptychon der Metropolen
Zur blutend’ Hauptstadt zog es ihn
Hat dieses auch die Seel’ befohlen
Geburt und Tod als Meilensteine
Uhr die tickt und Zeit verrennt
Träume inhaliert als seine
Schwebend, fliegend bis zum End’
Manche Schandtat zu bereuen
Dem einstig’ Trommler gar nicht fern
Demutshaltung nicht zu scheuen
Vergebungsvoll, auch sich im Kern
Nun hat er ein besonder’s Ziele
Zu schaffen Etwas, was dann gilt
Einblick schenken in das Spiele
Gewagt, geliebt aus Herbstherz schwillt.
Teil VI – 15.05.2022
Text und Fotos — Edgar Herbst
Freudetrunken wandelte der Jubilar auf der Landstraße, nahe dem Hafen von Hornfjord. In einem edlen Gasthaus hatte er ausschweifend, in heiterster Einsamkeit den 50. Jahrestag seiner Welterscheinung gefeiert, mit pikantem Lammgericht, so manch frischem Kruge isländischen Biers und zum Dessert unzählige Wodkas «zum Wohl auf sich selbst» gar eigensinnig zelebriert.
Sinnlich berauscht machte er sich zu gekommener Stunde blauschwarzer Dunkelheit auf den Weg zu seinem Nachtlager. Taumelnd, schwankend, tanzender Gedanken, trugen ihn seine Füße entlang des Randes einer spärlich beleuchteten Straße, bis ihn ein plötzlicher Schwindelanfall überkam und er niedersank, in den weichen moosigen Graben des Pfades.
Ein zartes und liebevolles Kitzeln an seinem bartwüchsigen Kinn ließ ihn nach kurzer Bewusstlosigkeit erstaunt und erfreut erwachen, denn eine Elfengestalt in fliegendem Weiß flüsterte ihm in sanfter Melodie singend in sein Ohr; sie habe ihn erwartet, eine kleine Überraschung zu seinem besonderem Tage sei vorbereitet, er möge ihr trauen und folgen.
Lächelnd, den Niederliegenden an die Hand nehmend, um wieder in seinen Schritt zu kommen, führte sie ihn, entführte sie ihn in die feucht saftgrün und wohltemperierte Mooswelt. Sie spazierten eine Weile, bis die Sporen der Pflanzen die eigene Körpergröße überragten, und jeder Grashalm wie ein weit in den Himmel ragendes Gewächs wirkte.
Der geisterhaft und prickelnd unheimliche Pfad führte durch nie gesehene Pflanzen- und Gesteinsformen in die Unterwelt isländischer Natur, bis sie eine nebelumwobene Höhle erreichten, die tief in einem unterirdischem Felsen liegend, durch einen kleinen Spalt in der Höhe vom Mondlicht beschienen, dessen weiches Licht wie ein warmer Spot auf eine mystische Szenerie, sichtbarer und gleichsam unsichtbarer Wesen strahlte, die einen geheimnisvollen, magischen Tanz vorführten, begleitet von Flötentönen und Harfenzupfen in psychodelischen Klängen. Der Reisende ward nun Ehrengast beim entzückenden Schauspiel eines Elfentanzes und schaute wie elektrisiert auf die ästhetischen und phantasievollen Bewegungen graziler Figuren voller Erhabenheit und Schönheit.
Wieder flüsterte ihm jene Gestalt, die ihn einst am Wegesrand aufnahm, zu, das sei sein Geschenk, die Inszenierung bedeute „Tanz des Seelenfriedens“. Das Erleben verspräche dem Erlebenden und somit ihm, die bösen und quälenden Geister zu vertreiben und die Energie heilender Kräfte zu erfahren.
Das farbenfrohe Theater der Unterwelt füllte sich mit der reinsten Form der Liebe mit der farblichen Nuance von Pfirsichblüt. Auf dem Höhepunkt der Performance fiel der Reisende wieder in eine Trance, die sich anfühlte, als würde er von vielen zarten Händen getragen.
Ein leise tönendes Hupsignal eines fahrenden Gefährts weckte den im Straßengraben Versunkenen. Der Fahrer fragte ihn freundlichst, ob er ihm helfen könne, doch der Erweckte verneinte herzlich dankend und beruhigend, er habe seinen Geburtstag gefeiert, sich auf seinem Heimweg eine erholsame Rast gegönnt, wobei er wohl in einen Traum versunken sei.
xxxxxxx, von: Edgar Herbst
Teil V – 11.02.2022
Text und Fotos — Edgar Herbst
Berlin Schöneberg, 6.Etage Bülowstrasse 94, Wolkentanz 2022
2022
Die in sanftem Donnern tönende U2 schneidet die Zeit in Scheiben und gleitet taktvoll zwischen den überirdischen U-Bahnhöfen Bülowstraße und Nollendorfplatz. So ist der Blick in die Tiefe von meinem neuen Domizil: fortwährende Bewegung des Schienenapparates. So ist der Blick in die Höhe: Wolkenzauber in entzückend bis dramatischen Variationen.
Der bordeauxrote Samtvorhang dämpft die unbarmherzige Wintersonne vor der Lichtüberflutung meines Raumschiffes. Im Foyer des Seniorenhauses Bülowstraße 94 verheißt ein angeschlagener Zeitungsartikel der TAZ Gefahr: «Unruhiges Wohnen im Alter … wehren sich Bewohner gegen Eindringlinge und Prostitution».
Zum Monatsende klingelt Frau K. an meiner Tür und bittet aufrechter Haltung um einige Taler – der Hunger nagt.
Ausblick Frankfurter Tor 6, Berlin Friedrichshain, Zuckerbäckerbauten 2001
2001
Dem architektonisch funktional-verführerisch anmutenden Zuckerbäckerbau am Frankfurter Tor 6 begegnet der Illusionär mit schwerer Bewaffnung von spirituellen Räucherwaren. Doch alle hexerischen Kräfte versagen – den ausdauernden und tief in der Platte eingenisteten Dämonen sowie dem Karma schmerzhaften Regimes ist mit solch humanen Streicheleinheiten nicht beizukommen.
Ein strategisches Missverständnis. Panik, Angst und Atemnot. Flucht! Flucht aus der DDR 2001.
Selbstportrait, Weserstrasse 153 Berlin Neukölln 2010
2010
«Neukölln Studios Berlin». In der Imagination ein in Höhe, Tiefe, Fläche unendlicher Raum – In Realität 28 Quadratmeter Partykeller im 2. Stock der Weserstrasse 163.
Die langjährigen Bewohner des Erdgeschoss haben einen großen Zettel an die Fensterscheiben angebracht: «BITTE NICHT HINEINSCHAUEN». Das Studio ein Begegnungtempel inspirierter, rauschhafter Couleur – Tanz, Musik, Exzess, Kreation – fehlerhafter Farbfilm in Überlänge scheinbarer Sorglosigkeit.
Die Nachbarin lag eineinhalb Jahre tot in ihrer Wohnung. «Lower East Side» ist weit weg.
2014
Der als Laubbeauftragter und Hauswächter Fungierende widmet sich leidenschaftlich forschend den Gullys auf dem ehemaligem Schulhof des «College Voltaire» in Berlin Waidmannslust. Entdeckend, findend, wieder in Erscheinung bringend, vom Straßenschlund verschlungene, vom Modder der Gezeiten ummantelte Utensilien einstiger französischer Schülerschaft.
An der Eingangspforte des Schulgebäudes, in der Rue Racine 7, wird in den großen Lettern der Besatzungsmacht der Philosoph Voltaire zitiert:
«Liebe die Wahrheit – Verzeihe dem Irrtum».
Ein verlorener, verlassener Ort – belebt von Freudigen des stationären Experiments. Die Klassenzimmer verwandelt in Luststuben aus Freiheit und Kunst.
Die Formel und Schrift gewohnte Tafel zeigt intime, obszöne Notizen der Wandelnden. Ungehorsam steht auf dem Stundenplan der Ausschweifungen von Tag und Nacht, begleitet in der Dunkelheit vom blitzenden Kreisen der Fledermäuse.
Das College Voltaire in der Rue Racine 7, Berlin Waidmannslust 2014
Teil IV – 15.12.2021
Text und Fotos — Edgar Herbst
Schmetternd zerbirst die weiße Tür, hinter der sich die Mutter versteckt. Der Vater hat mit zorniger Gewalt mit dem großen Hammer auf seine Liebe eingeschlagen. Die weißen Scherben des Milchglasfensters säumen die traurige Kulisse spitz und scharf.
Schmerz, Stille, Ohnmacht.
Das schreiende Kind auf den Armen einer Bediensteten sehnt sich nach den sanften, zarten Armen der Mutter, in Traute, Angeschmiegtheit und Wärme; die starken, kräftigen Arme des Vaters sollen bitte den Kreis schließen, in Schutz, Behutsamkeit und Liebe.
Brennende Dunkelheit wirft schattenlose Schatten zitternder, flackernder Körper auf das Parkett. Träumend, funkelnde Augen, verschlingend tastende Hände, im Rythmus wallender Adern, pulsierender Herzen, wollülstig, glühende Lippen sehnen nach inniger Umarmung.
Schweißperlentriefende Haut – Berührung – Eins im Inneren fühlen.
Von oben nach unten: Tanzabend auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik, 1992; Pacha Ibiza, 1992; Im «Le Queen» Paris, 1993; Edgar im Kurpark Bad Lauterberg im Harz, 1964
Teil III – 15.09.2021
Text und Fotos — Edgar Herbst
Der fünfjährige Edgar Herbst unter dem Pferd, auf dem Vater Kurt Herbst sitzt, auf dem familieneigenen Reiterhof in Ihlienworth, 1966
1966
Die alte Wohnzimmeruhr auf dem Anrichtetisch im ehrwürdigen Salon meiner Großmutter bewegte ihre Zeiger schonungslos auf die heilige Zwölf zu. Der Gong, der den Appell zum Mittagstisch verhieß.
Auf dem schwarzen Eichentisch, von einer blütenweiß und faltenlos gemangelten Tischdecke mit bestickten Blumenmustern überzogen, formierten sich goldrandiges Porzellan, Tafelsilber und Servietten in polierten Ringen. Zart dampfender Rauch aus der Suppenschüssel, gefüllt mit dem nach Hausfrauenart zubereiteten Nachkriegsgericht «Himmel und Erde», der Raum erfüllt lieblich bis bizarr, süss sauer.
Auf einem überdimensionierten Ölgemälde war in herbstlicher Anmutung eine Treibjagdszenerie abgebildet. Gemalt mit lebendig bis gewaltigem Pinselstrich von einem mittellosen Künstler, gegen ein Honorar des lebenslangen freien Alkoholausschanks in der Kneipe meines Vaters. Urplötzlich befreite sich das Werk aus dem verziertem Rahmen und verwandelte die Stube in ein ekstatisch aufgewühltes Areal von hechelnden und kläffenden Kaiserhunden, dresscodierten Reitersmännern auf ihren wildgewordenen schaummündigen Rossen, angetrieben von den Fanfaren aus den Hörnern der Bläser.
Aus einer tranceartigen Ohnmacht erwachend, erblickte ich aus dem Unterholz im nebligen Gegenlicht der Sonne die Konturen der Pferde, die sich ihrer Reiterschaft entledigt hatten und friedlich an dem Wasserquell eines Waldbaches labten.
Durch das Waldgebiet ertönte nun der zwölfte Schlag der Wohnzimmeruhr, wie jener aus dem Glockenturm einer weltlichen Kathedrale, und ließ den noch heißen Inhalt der Suppenschale erzittern.
1997
Die Ausstosslaute der Tribünenschaft der Galopprennbahn schallten stumpf und spitz zugleich aus den glühenden Kehlen der Wettfreudigen. Sie hallten bis zum edelweißen Plastikzelt der Interessenvertretung des Champagnergiganten Moët & Chandon.
Hier wurde feinen und erlesenen Gästen, in der Senke der Mittagssonne, ein noch feinerer und noch erlesenerer Trunk kredenzt. Der hauseigenen Marke wurde ein halber Messbecher eines in die Jahre gekommenen Cognac hinzugeführt, sodass die Gemeinde unweigerlich von Siegerstimmung heimgesucht wurde.
Es roch nach Pferd – es regnete Hüte. Auf dem Zielphoto des zum Anlass jährlich stattfindenen Kopfschmuckwettbewerbes sichtbar auf dem dritten Rang, stand ein südseeparadiesisch anmutendes Früchtearrangement, eine halbe Hutlänge hinter einem LSD-farbenprächtigem Vogelkäfig mit einer schaukelnden Papageienattrappe. Die unangefochtende Nummer Eins jedoch trug eine mondäne Dame auf ihrem Haupt: ein Hutgestell, aus dem ein liebevoll passioniert modellierter übergrosser Hengstpenis in den Himmel ragte, mit hellgrauem Teint und fleischfarbig, der in seiner Halterung ungeniert wankte.
Dame im VIP-Bereich, Galopprennbahn Iffezheim, Baden Baden, 1997
Teil II – 2021
Text und Fotos — Edgar Herbst
Waltraud Herbst «Die Nummer 1 im Harzer Skiverband», in den 60er Jahren, Foto: Privat
1961
Drei Monde hatte ich mich im Bauchsalon meiner Mutter eingenistet, da vernahm ich ein unruhiges Pochen des Herzens über mir.
Der Himmel in erbarmungsloses Azurblau getränkt, die zum Höhepunkt aufgestiegene Sonne als natürlicher Scheinwerfer für das Spektakel der Waghalsigen.
Die Kandahar-Abfahrt in Garmisch-Partenkirchen war im Februar 1961 Schauplatz der Deutschen Alpinen Skimeisterschaften. Die enthusiastische Athletin Waltraud Herbst ließ es sich trotz der besonderen Umstände nicht nehmen, als Vertreterin des Harzes an dem berüchtigten Rennen zu starten – zu zweit!
Die Hülle meiner zarten Behausung wurde von einem Cocktail aus positiven körpereigenen Botenstoffen durchströmt. Die Fahrt führte in die Tiefe, in einen schneeweißen Abgrund. Dabei trugen die Streckenabschnitte die biblischen Nennungen «Himmelreich», «Höllentor» und «Hölle».
Ich fühlte ein Schweben, ein Scharren, ein Kurven, ein Rasen, ein Gleiten, doch auch ein Purzeln, abwechselnd mit schwerem und leichtem, tiefem Atem.
Bei der glücklichen Ankunft im Ziel erstrahlte das Inferno in unschuldigem Weiß.
2000
Der Pfad zum sumpfigen Parkett führt über glitschige Stiegen. Aus den Logen quellen die Augen auf die in ausufernder Ekstase in Frack und Robe Zelebrierenden.
Der Ballsaal wandelt sich zum Urwald. Regentropfentragende Scheinwerferlichter scheinen durch die barocken Wände. Kreischende Affen schwingen vergnügt von einem Kronleuchter zum anderen. Die Bühne ist ein rotfarbiger champagnergefluteter Wasserfall, Krokodile lungern hungrig im Orchestergraben, Schlangen schlängeln sich zum Würgen bereit durch Perl- und Lackschuh. Der Zapfenglöckner thront in den himmelsnahen Baumwipfeln und lässt seinen Ruf nach Liebe ertönen.
Der Auslöser meiner Kamera ist mit Moos überwachsen, die Linse schummrig und beschlagen. Der Kameraspiegel des verzweifelten Narren ist blockiert – ein Bild ist nicht zu nehmen.
Selbstportrait von Alexander Prinz zu Schaumburg Lippe und Edgar Herbst (v.l.n.r.) auf der AIDS Gala, Deutsche Oper, Berlin 2000.
Teil I – 2021
Text und Fotos — Edgar Herbst
Selbstportrait, in der Erdgotherapie ausgemalt und mit Kamera und Laubharke ergänzt von Edgar Herbst. Im Jüdischen Krankenhaus, Berlin, im Juli 2017.
2017
Die junge Dame, die an Schizophrenie erkrankt, erschreckte mich am ersten nüchternen Tag, als sie unbekleidet durch die kargen, weißgelben Gänge der Station 10 rannte, und in Gedichten ihren Vater und den Führer mal verherrlichte, mal beschimpfte.
Zwei Tage nach meiner Selbsteinlieferung am 30. Juli 2017 in das Berliner Jüdische Krankenhaus, schlich sich das schöne Gift nur zäh aus meinen Muskeln und Gliedern. Wehmütige Gedanken an den letzten Abend im Landhaus Märkisch Wilmersdorf, mit Julie, meiner lieben Herz- und Rauschprinzessin, feierte ich vorm zart flackernden Kamin ein letztes Fest. Ein Sommerregen und traurige Wolken überzogen das intime Paradies des Exzesses einer Zeit surrealen Erlebens an der Oberkante Universum.
Selbstportrait, in der Erdgotherapie ausgemalt und mit Kamera und Laubharke ergänzt von Edgar Herbst. Im Jüdischen Krankenhaus, Berlin, im Juli 2017.
1992
Das Hotel Pikes in den Bergen der Insel Ibiza hatte vor einem Jahr noch Freddie Mercury und seine Crew beherbergt, und es wurden wilde Abende kolportiert. Für die große Sommergeschichte des Jahres 1992 wurden auf der Redaktionskonferenz des Magazins Stern der Photograph Paul Schirnhofer, der Sternautor Jochen Siemens und der Nachtvogel Edgar Herbst auserwählt, in Reportageform aus der Exzesszone der rauschhaft tanzenden, ostentiös Veranlagten möglichst spektakulär zu berichten. Über Ibiza hingen in diesen Sommertagen tiefe Wolken, Dauerregen besprühte den blassgraublau glitzernden Pool.
Der liegende Photograph, Edgar Herbst auf Ibiza, 1992 / Foto — Paul Schirnhofer
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