Theorie
Fotografie und Vergessen
Text —Bernd Stiegler
Fotos — Alexander Gardner
Fotografien sind seit Anbeginn ihrer Geschichte ein Medium, vielleicht sogar das Medium der Erinnerung und des Gedächtnisses. Sie sind bereits als Medium, so bringt es Mitte des 19. Jahrhunderts der amerikanische Publizist Oliver Wendell Holmes auf eine schöne Formel, «ein Spiegel mit einem Gedächtnis», bringen sie doch vermeintlich objektiv und unbestechlich die Wirklichkeit in Bilder. Diese ihnen zugeschriebene besondere Qualität hat ihnen dann die Aufgabe des Eingedenkens mit auf ihren historischen Weg gegeben. Von den Familienalben, an deren Bildern ganze Geschichte hängen, die erzählt werden wollen, über die Presse- und Dokumentarfotografie, die historische Ereignisse aufzeichnen, bis hin zur Visual History, die in den letzten Jahren Fotografien als historische Quellen entdeckt hat, reicht dabei das Spektrum.
Fotografien sind nicht nur bereits im Moment ihrer Aufnahme das Zeugnis eines nun bereits Geschichte gewordenen Augenblicks, sondern darüber hinaus eine Art Zeitspeicher, der über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte hinweg den Blick auf eine vergangene Zeit eröffnet. Fotografien haben, was jedenfalls das durch sie Dargestellte anbetrifft, keine Gegenwart, sondern nur eine mehr oder weniger weit zurückliegende Vergangenheit. Und diese scheint in ihnen in ihrer ganzen visuellen Fülle aufbewahrt zu sein. Das macht Fotografien zu einem Schatz der Erinnerung, der Geschichte und des Gedächtnisses.
Das war allerdings beileibe nicht immer schon so und hat sich zudem vielleicht auch heute bereits grundlegend gewandelt. Auch wenn die Fotografie im Alltag immer schon mit der Erinnerung kulturell verbunden war, gehörten Fotografien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mitnichten zum festen Bestand des bewahrenswerten kulturellen Erbes. Das zeigt besonders schlagend die besondere Geschichte eines der bedeutendsten fotografischen Bildbestände der amerikanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Alexander Gardners Aufnahmen aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg, um die es hier geht, gehören jedenfalls fraglos zu den Inkunabeln der Fotografiegeschichte und dürfen in kaum einem Band zur Geschichte der Fotografie fehlen. Die Reihe mit den gefallenen Soldaten ist eine der berühmtesten der insgesamt 70 Aufnahmen, die am 21. September 1862 entstanden sind.
Sie diente seinerzeit, da es noch keine technischen Reproduktionsmöglichkeiten für Fotografien in Zeitungen gab, auch als Vorlage für Holzschnitte, Stahlstiche oder Lithographien, die an ihrer statt bei Publikationen Verwendung fanden. So wurde sie rasch Teil des amerikanischen Bildgedächtnisses und dient bis heute auch als Grundlage historischer Rekonstruktionen. Mithilfe der Fotografien von Gardner, Brady und anderen, wird seit einiger Zeit die Landschaft um Antietam in einen Geschichtspark zurückverwandelt. «Hier war die ‚Bloody Lane‘ und hier sehen Sie das ‚Bloody Cornfield‘». William Frassanito hat in verschiedenen Publikationen jedem Bild Gardners sein heutiges Pendant gegenübergestellt.
Und Stephen Recker, der dereinst als Gitarrist für die Spencer Davies Group und Al Stewart und als Techniker für Kiss und Madonna gearbeitet hat, widmet heute seine Freizeit der Geschichte von Antietam und hat dieser die Website www.virtualantietam.com gewidmet, hält aber auch Vorträge und gibt Führungen auf den ehemaligen Schlachtfeldern. Respektvoll und menschenleer, wie man es von Gedenkorten gewohnt ist, sind die Bilder auf seiner Website heute, auch wenn vermutlich zumeist Schafe oder Rinder auf den geschichtsträchtigen Wiesen grasen. «Betrachtet die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig.» So schreibt bekanntlich Friedrich Nietzsche zu Beginn seines Essays «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben».
Schwermütig dürfte hingegen Alexander Gardner gewesen sein, als er zwei Tage nach der entscheidenden Schlacht am 19. September 1862 eingetroffen war und die Gefallenen erblickte, und überdrüssig war man später seiner Bilder, die diese zeigten. Doch waren Gardners Fotografien eigentlich auf die longue durée ausgerichtet. Das ist auch durchaus technisch und logistisch zu verstehen: Gardner reiste mit seinem Atelierwagen den Ereignissen immer hinterher und erreichte die Orte des Geschehens eigentlich immer zu spät, wenn die Schlacht geschlagen und die Geschichte geschrieben war. Dann kam Gardner und nahm auf, was noch aufzunehmen war. Man hatte Zeit: Nicht der Augenblick war von Bedeutung, sondern der Überblick. Mitunter wurden gefallende Soldaten der Bildwirkung willen umgebettet und auch allerlei störendes herumliegendes Beiwerk wurde beiseitegeschafft oder neu arrangiert, wurden doch Bilder für die Öffentlichkeit und die Geschichtsbücher geschaffen. Daher war auch der olympische Blick der favorisierte und die Momentaufnahme technisch, ästhetisch und bildpolitisch ein Ding der Unmöglichkeit. Es ging bereits bei den Bildern zu Zeiten des Krieges um Dauer und Tradition. Das zeigt etwa die Tatsache, dass die Aufnahmen Gardners als Photographic Sketchbook of the War (Washington 1866) in zwei Bänden mit 100 Abzügen, für die der seinerzeit enorme Preis von 150 $ aufgerufen wurde (das entspricht heute in etwa 3000 $), Verwendung fanden. 44 der Aufnahmen stammten dabei von Timothy O’Sullivan, der mit und für Gardner arbeitete. Alles schien für die Ewigkeit oder zumindest für die Geschichte bestimmt zu sein.
Angesichts dieser besonderen Bedeutung, die Gardners Fotografien fraglos zukommt, gehören sie doch zum Kern der amerikanischen Bilder, die Geschichte gemacht haben, mag es durchaus überraschen, dass die zahlreichen Fotografien Gardners und auch Matthew Bradys (von denen ein nicht unerheblicher Teil von Gardner stammte) eine mehr als nur wechselvolle Geschichte hatten. Beide versuchten früh, ihre Bilder, deren historische Bedeutung auch unter Zeitgenossen unumstritten war, an den Kongress zu verkaufen und verfassten etwa 1869 eigens eine Petition, die aber abgelehnt wurde. Erst 1875 kam es immerhin zum Ankauf der Fotografien Bradys zu einem für ihn enttäuschenden Preis, der auch nicht ansatzweise seine Kosten deckte. Gardners insgesamt etwa 90.000 Glasnegative wanderten hingegen erst zu einem Berufsfotografen in Washington DC, der sie aber, vermutlich mit Gewinn, gleich an einen Altglashändler weiterverkaufte. Selbst dieser erkannte noch den besonderen Rang der Bilder als historische Dokumente und versuchte diese daher auch als solche zu vermarkten - doch ohne jeden Erfolg: Nach Kriegsende interessierte sich niemand mehr für die Bilder. Man war ihrer überdrüssig. Gardners Glasnegative traten einen besonderen Weg ad fontes an: Ihre fotografische Schicht wurde entfernt und sie fanden für den Bau von Gewächshäusern weitere Verwendung. Sie wurden wieder zu leeren Glasplatten, zu virtuellen Trägerschichten und anderen Medien des Lichts. Auf das Glas bist du gekommen und vom Glas sollst du genommen werden; das war nicht selten das Schicksal der Fotografie im 19. Jahrhundert. Der Bildträger war am Ende wertvoller als das Bild.
«Das war nicht selten das Schicksal der Fotografie im 19. Jahrhundert. Der Bildträger war am Ende wertvoller als das Bild.» — Bernd Stiegler
Es sollte bis weit ins 20. Jahrhundert dauern, bis die Geschichtsvergessenheit des fotografischen Erbes aufgegeben wurde. Zu den Paradoxien der Fotografiegeschichte gehört dabei, dass es just die geschichtsvergessende Avantgarde-Fotografie ist, die nach 1945 wiederentdeckt wird und dies zugleich allmählich die nun definitive Verwandlung des technischen Mediums von einem Wegwerfobjekt in ein Kulturgut einleitet. In Europa greift man auf die Avantgarden zurück, um sich für den gebotenen Neuanfang politisch neutralere Referenzen zu suchen. Vereinzelte Institute und Lehrer beginnen in den 1950er Jahren umfänglichere Sammlungen anzulegen, deren Aufgabe es ist, den Studierenden beim Unterricht Originale vorlegen zu können: eine Studiensammlung, die weiterhin eine explizit selektive Kanonisierung vornimmt. Nur das, was für die eigene Position als Vorbild dienen kann, wird gesammelt. Der Rest wird weiter munter weggeworfen oder zumeist schlicht vergessen.
Diese Situation sollte sich erst in den 1960er und dann vor allem in den 1970er Jahren in signifikanter Weise ändern. In Deutschland wurde die umfangreiche fotohistorische Sammlung Erich Stengers zwar bereits 1955 für 120.000 Mark an die AGFA verkauft, das geplante Museum wurde hingegen nicht eingerichtet. Etwa zwanzig Jahre lang blieb alles in Kisten eingelagert und wurde dann erst ausgepackt und erschlossen. Ähnlich erging es Helmut Gernsheim, der noch in den 1950er Jahren für sehr wenig Geld ganze Alben mit Talbots, Carrolls oder Fentons erwarb. Er verkaufte 1963 nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen bei diversen Institutionen seine Sammlung für 300.000 $ an die University of Austin, Texas. Ihr Wert wird heute auf über 40 Millionen Dollar taxiert. Ähnliches ist überall zu konstatieren: In den Vereinigten Staaten beginnt man zwar bereits Mitte der 1930er Jahren mit den großangelegten Kampagnen der Farm Security Administration, die Bilder des Amerikas der Gegenwart sammeln, entdeckt aber erst in den 1970er Jahren die bedeutenden Surveys des 19. Jahrhunderts. Das Metropolitan Museum of Art veranstaltete schließlich 1975 unter dem Titel «Era of Exploration» eine umfassende Ausstellung mit historischen Bildern. Die Bilder O'Sullivans, Watkins' und anderer werden nun als klassische Ansichten des amerikanischen Westens regelrecht kanonisiert und dann auch von den «New Topographics» und selbst von William Eggleston entdeckt.
Diese Geschichte einer progressiven Wiederentdeckung und konsequenten Musealisierung der Fotografie, die erst weit über hundert Jahre nach ihrer Erfindung einsetzt, ist reich an Anekdoten, harrt aber bis heute noch einer umfassenden Aufarbeitung. Zu berichten wäre etwa über die späte Erschließung des Fotobestands der Pariser Bibliothèque Nationale, der dorthin überhaupt nur über die Institution des «dépôt légal» kam, der die Pflichtabgabe von Druckwerken regelte - und als solche wurden auch Fotografien angesehen. Gleichwohl wurden diese - anders als die Bücher - erst einmal nicht katalogisiert und bibliographisch aufgearbeitet, sondern schlicht abgelegt und hatten mitunter über einhundert Jahre auszuharren, um überhaupt ein zweites Mal betrachtet zu werden. Der Gemeinplatz einer Kritik, die der potentiell aufklärerischen Macht der Schrift die gegenaufklärerische Ideologie der Bilder gegenüberstellt, findet sich hier in praxi umgesetzt. Bücher sind ein wertvolles Kulturgut, Fotografien eher Dinge, bei denen man nicht weiß, was man mit ihnen anfangen soll. Immerhin wurden sie in Paris nicht weggeworfen.
Die Zeit des Wegwerfens ist nicht vorbei
Von allen heute für die Welt der Fotografie bedeutenden Institutionen und aus allen Ländern der Welt wäre Ähnliches zu berichten. Die Geschichte der Fotografie ist, so scheint es, vor nicht einmal einem halben Jahrhundert entdeckt worden. Und kurz nachdem dies geschah, begannen Fotografinnen und Fotografen, die musealisierten Inkunabeln ebenso wie den Rest, den fortgeworfenen Müll der Geschichte, aufzulesen und in eigene künstlerische Projekte zu verwandeln. Nun gibt es (fast) keinen Rest mehr, nahezu alles kann recycelt und in ein Kulturgut verwandelt werden. «Found Footage» ist das - eigentlich aus dem Horrorfilm-Genre stammende - Label, das aus Abfall Kunst zu machen verspricht. Das Spektrum reicht dabei von großangelegten künstlerischen Projekten, wenn man etwa an Christian Boltanski, Hans-Peter Feldmann, Peter Piller oder Tacita Deans Floh denkt, über diverse Künstlerbücher, die sich auf Flohmärkten oder bei den familieneigenen Alben bedienen, bis hin zu Onlineplattformen wie Instagram, Pinterest oder Flickr und sogar Blogs und Zeitschriften.
Diese Felder werden weitgehend von Amateuren bespielt, was jedoch mitunter dem künstlerischen Anspruch keinen Abbruch tut. Zwischen ambitionierter Appropriation Art, provokativer gender- oder postkolonial grundierter kulturkritischer Kunstpraxis und dem harmlosen Spiel mit dem Witz wird ein Netz ausgespannt, das nahezu alle weggeworfenen Bilder einfangen und verwerten kann. Die Bilder sind Teil einer vertrauten und bekannten Alltagspraxis, die nun aufgenommen und mehr oder weniger gegen den Strich gebürstet wird.
Fotografien, die aller Musealisierung zum Trotz immer noch als Wegwerfobjekte angesehen werden, erscheinen mit einem Mal nobilitiert als Gegenstände der Kunst. Wegwerfen war gestern. «Re-Make/Re-Model», um einen Songtitel von Roxy Music aufzunehmen, ist heute. Die gerade erst entdeckte Geschichte wird dabei bewusst umgeschrieben. Das große Sammelbecken dieser Flut weggeworfener Bilder ist dabei die Kunst.
Wer jedoch gedacht hätte, dass die Zeit des Wegwerfens vorüber sei und Institutionen fortan auf Bestandssicherung setzen würden, hat sich getäuscht. Die in den letzten Jahrzehnten vielbeschworene Materialität spielt dann keine Rolle mehr, wenn sich andere Techniken als praktischer herausstellen. Immer dann, wenn von Sicherung die Rede ist, geht es vor allem um Datensicherung.
Sind wie jüngst die bedeutenden Bestände der Bibliothek in Timbuktu bedroht, so werden sie digitalisiert. Und sind die noch mit Dias arbeitenden Lichtbildarchive einmal digitalisiert, so haben die alten Bildträger zumeist ausgedient und können weggeworfen werfen. Doch auch dieser Altbestand überkommener und scheinbar überflüssiger Datenträger, kann mit einem Handstreich von Wegwerfobjekten in Kulturobjekte verwandelt werden.
Der Künstler Philipp Goldbach hat vor einigen Jahren den Bestand der Diapositive des Kunsthistorischen Instituts der Universität Köln übernommen und mit ihm gewissermaßen auch das Erbe der visuellen Aufklärung, um das es hier dereinst ging. Die insgesamt etwa 200.000 Bilder wurden im Unterricht zumeist in der klassischen Gestalt von Doppelprojektionen eingesetzt, um in vergleichendes Sehen einzuüben und die Kunstgeschichte als Erziehung des Sehens medial-apparativ umzusetzen. Mit der Digitalisierung wurden sie als Objekte überflüssig.
Philipp Goldbach nimmt sich nun dieser Bilder an und verwendet sie nicht in dem ihnen vorbestimmten Sinn von Projektionen, sondern als Installationen, die in anderer Weise das Projekt der Fotografie reflektieren. Philipp Goldbach hat die zahllosen Schachteln mit Diapositiven in zwei Ausstellungen in Kunst verwandelt (2013 zeigt der Künstler im Museum Wiesbaden das gesamte Dia-Archiv des Kunsthistorischen Instituts der Universität Köln auf dem Boden verstreut - ca. 200.000 35mm Dias fotografischer Reproduktionen von Kunstwerken aus über 2.000 Jahren Kulturgeschichte.
Bei der ersten war fast der ganze Boden eines Raums mit diesen Lichtbildern bedeckt, so als sei die Digitalisierung als Bildersturm über sie hinweggegangen. Bei der zweiten Installation hat Goldbach die zahllosen Diarähmchen hingegen - fast wie bei einer Arbeit von Donald Judd - so sorgfältig aufgestapelt, dass sie wie Strichcodes erscheinen und so in anderer Weise suggestiv-metaphorisch ihrer Bestimmung zugeführt werden. Das digitale Zeitalter hat längst begonnen und das Schicksal der Bilder ein weiteres Mal verändert.
Wahrgenommen wird, was bestimmten Vorgaben gehorcht
Erneut scheint es so, als habe der digital turn den fotografischen Bildern historischen Rückenwind verliehen. Jedenfalls wurden niemals auch nur annähernd so viele Fotos aufgenommen und verbreitet wie das heute der Fall ist. 2008 wurden 19 Millionen Fotos täglich im Netz hochgeladen, 2012 363 Millionen und 2014 bereits 1,8 Milliarden. Dagegen sind die auch schon beachtlichen 3000 Carte de Visite-Fotos, die das Atelier von Disdéri in Paris um 1860 pro Tag herstellte, «peanuts». Und noch eine weitere Zahl: 2017 wurden 1,2 Billionen digitale Fotos aufgenommen und davon 85% mit Smartphones. Die Zahl der Accounts der social media-Plattformen steigt beständig, auch wenn deren Konjunkturen sich verändern. In der Publikumsgunst tritt gegenwärtig Instagram an die Stelle von Facebook, doch das Prinzip bleibt: Die Bilder konkurrieren um eine Wahrnehmung in der Gegenwart, scheren sich aber wenig um ihre eigene Geschichte. Sie rutschen Tag für Tag tiefer in der Scroll-Liste, um bald gänzlich aus jedem Aufmerksamkeitsfeld zu verschwinden und allenfalls über komplexere Suchbefehle auffindbar zu werden. Sie sind dadurch Geschichte geworden, aber eine, die ohne Bedeutung für die Gegenwart ist. Das digitale Archiv ist vor allem dafür da, einen materialen Speicher bereitzustellen, der das bewahrt, was bereits vergessen ist. Letztlich gilt das auch für die private Bildproduktion. Wenn der Sommerurlaub in mehreren Tausend Bildern aufgezeichnet wird und das Leben des neugeborenen Kindes von Tag zu Tag fotografisch dokumentiert wird, so hat das mit einem Bildgedächtnis wenig zu tun, sondern eher mit einem gesellschaftlich institutionalisierten Raum des Vergessens. Gerade weil Bilder in so großer Zahl vorhanden sind, spielt die Erinnerung und das Gedenken, das sie strukturieren und ihnen eine Gestalt geben könnte, eine nachgeordnete Rolle, da sie gar nicht dafür da sind, erinnert zu werden. Es reicht, dass sie vorhanden sind. Digitale Speicher sind zumeist Bildarchive des Vergessens. Wenn Bilder aufhören zu zirkulieren, fallen sie aus dem Raum der Erinnerung heraus.
Das gilt auch für das große weite Feld der social media. Die ohnehin rigide Aufmerksamkeitsökonomie, die hier regiert, ist zudem streng in ihren Regeln: Wahrgenommen wird vor allem das, was bestimmten Vorgaben gehorcht, was gattungskonform ist und Vorbildern folgt: von Selfies über Food-Fotos bis hin zu besonderen Reise-locations. Wir kennen alle die Bildtypen unserer Gegenwart und kommunizieren mit ihnen. Mit Geschichte hat das wenig zu tun, mit Vergessen ungleich mehr. Das digitale Archiv kennt vermeintlich kein Vergessen und praktiziert doch eine dramatische mediale Verdrängung: Die Bilder werden mit Fortschreiten der Zeit und dem damit einhergehenden Aufkommen neuer Bilder aus dem Aufmerksamkeitsfenster heraus ins virtuelle Archiv geschoben, das aber eben nur ein virtuelles ist. Die Bilder zielen eben zumeist nicht auf die Geschichte, die Erinnerung und das Gedenken, sondern auf eine Wahrnehmung, die sich in der Gegenwart zu bewähren hat und ansonsten nutzlos ist. Dies kann aber nur dann erfolgreich gelingen, wenn Bilder nicht mit Geschichte, sondern mit Geschichten angereichert und versehen werden. Die Schlacht der digitalen Bilder wird hingegen in der Gegenwart geschlagen. Die Fotos simulieren Gegenwart, auch wenn sie nolens volens immer vergangene Momente zeigen. Auf Erinnerung hingegen zielen sie nicht. Noch dazu schrumpft die Gegenwart immer weiter zusammen und meint nicht länger die Dauer einer Generation. Aus Jahrzehnten werden Jahre, aus Jahren Monate, aus Monaten Tage. Der Gedächtniszeitraum in den social media wird immer kürzer je mehr Bilder gepostet werden. Das Netz verliert zwar nichts, ist aber vergesslich, was den eigenen Bildbestand anbetrifft. Und auch wir produzieren fortwährend Bilder, um sie sogleich zu vergessen und das ist vermutlich auch die Funktion der massenhaften digitalen Bildverfertigung: Gegenwart in Vergangenheit zu verwandeln, die auf eine Anerkennung und Wiederauferweckung in einer zukünftigen Gegenwart hofft und, sollte dies nicht gelingen, die Bilder dem definitiven Vergessen anheim gibt.
Diese bemerkenswerte Zunahme der fotografischen Bildproduktion bei gleichzeitiger medialer Verdrängung des Jüngstvergangenen hat allerdings ein besonderes Pendant, denn nie wurden mehr Fotografien aus den Archiven herausgeholt und verfügbar gemacht als heute. Ganze Bildbestände werden erschlossen und ins Netz gestellt, ganze Archive digitalisiert und katalogisiert. Je mehr sich die Gegenwart auf die unmittelbare Anerkennung eines sich zeitlich immer weiter zusammenziehenden Heute konzentriert und dabei die Geschichte Geschichte sein lässt, umso mehr wird im Gegenzug die weiter zurückliegende Vergangenheit visuell historisiert. Das digitale Vergessen in der Gegenwart scheint sich durch ein erinnerndes Entdecken und systematisches Archivieren der Vergangenheit sozial freikaufen zu wollen. Früher stiftete man eine Kirche oder ein Kloster, wenn man seinen Bruder umgebracht hatte, der dem eigenen Anspruch auf den Thron entgegenstand, heute investiert man die Archivierung der Vergangenheit, wenn man die Gegenwart verraten und die jüngere Geschichte vergessen hat, um die ökonomische Vorherrschaft zu erringen.
Doch auch das hat mitunter eine besondere Pointe: Marktführer der digitalen Welt erwerben – wie das Beispiel der Bildagentur Getty Images zeigt - millionenfach Bildrechte von Museen und Künstlern, Agenturen und Archiven weltweit, um letztlich auch diese ökonomisch nutzen zu können. Die Fotografien sollen erneut zirkulieren, nun aber nicht im Sinne des kulturellen Gedächtnisses, sondern des Kapitals. Wenn aber aus kulturellem und sozialem Kapital ökonomisches wird, verwandelt sich die Fotografie von einem Medium des Gedächtnisses in eines, das heimlich, still und leise dem Vergessen die Tür öffnet. Und vielleicht werden wir eines Tages die Fotografie als Medium des Vergessens ansehen.
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