Retuschierbesteck, Anfang 20. Jh., Aus: Heinz K. Henisch und Bridged A. Henisch, The Painted Photograph 1839-1914: Origins, Techniques, Aspirations, University Park/Pennsylvania 1996, S. 43
Die Frage «Wie hältst Du es mit der Retusche?» ist eine Glaubensfrage
Text — Bernd Stiegler für ReVue — 21.06.2022
Abbildungen — Sammlung Stiegler
1855 kam es in der französischen Zeitschrift Bulletin de la Société française de photographie, dem Organ des ersten und zugleich wichtigsten französischen Fotografenvereins, zu einer «lutte amicale», einem «Streit unter Freunden», der aber rasch zu einer rhetorisch rustikal geführten Auseinandersetzung über die Prinzipien der Fotografie geriet. [1]
Es ging um die auf den ersten Blick etwas randständige Frage, ob Fotografien retuschiert werden dürfen oder nicht. Während der «Liberale» Paul Périer in einem mehrteiligen Bericht über die Fotografie auf der Weltausstellung hier kein Problem erkennen konnte, ja sogar für ihren Einsatz warb, argumentierte der selbsternannte «Puritaner» Eugène Durieu für ihre strikte Ablehnung.
Es war ein Streit zwischen dem Präsidenten der Vereins Durieu, den man vor allem über seine Aktaufnahmen kennt, die der Maler Eugène Delacroix als Vorlagen verwendete, und dem Vizepräsidenten Périer, dessen fotografisches Œuvre heute vergessen ist, der aber auch als Bankier, Politiker und Kunstkritiker tätig war.
Die Schärfe der Debatte ist vermutlich auch der Tatsache geschuldet, dass die Société française de photographie seinerzeit gerade erst vor einem Jahr gegründet worden war und man Grundsätzliches am besten gleich zu Beginn klärt. Denn dass es bei der Frage der Retusche um die Prinzipien der Fotografie gehe, daran ließ Durieu keinen Zweifel. Hier stehe das Wesen der Fotografie und ihre Zukunft, die damals, eineinhalb Jahrzehnte nach der spektakulären Bekanntmachung der Erfindung der Daguerreotypie, noch in jeder Hinsicht unabsehbar war, auf dem Spiel.
An Périers nachsichtiger Haltung gegenüber der Retusche sei nämlich gefährlich, dass sie diese nicht nur ausnahmsweise, sondern systematisch zulasse («elle érige la retouche en système») und damit gewissermaßen die Fotografie verrate. Périer erlaube sie nicht nur bei unbedingt notwendigen Fällen, wie etwa der Ausbesserung von technischen oder Materialfehlern, sondern erblicke in ihr eine wünschenswerte künstlerische Ergänzung zur Fotografie («complément artistique de la photographie»).
Daher müssten sich bereits hier, ganz am Anfang der Geschichte der nun endlich institutionell organisierten Fotografie, ihre Wege trennen. Aus dem Streit unter Freunden wird sehr rasch eine Auseinandersetzung über die Grundüberzeugungen hinsichtlich des Wesens der Fotografie.
Die Frage «Wie hältst Du es mit der Retusche?» ist eine Glaubensfrage, die das Bild, das man sich von der «versatile little goddess», wie Peter Henry Emerson die Fotografie nannte, offenbare. Angesichts der Herausforderung der Retusche komme man nicht darum herum, sich ein Bildnis der Göttin der Fotografie zu machen. Die Fotografie stehe, wenn es um die Retusche gehe, wie Herkules am Scheideweg, und habe zwischen zwei Grundausrichtungen zu wählen, die sich wechselseitig ausschließen.
Man muss sich entscheiden zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch, wobei jede Position behauptet, die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben. Mit anderen Worten: Die Frage nach der Zulässigkeit der Retusche ist offenkundig eine von prinzipieller Natur. Hier geht es um nichts Geringeres als um die Wahrheit und das Wesen der Fotografie. Doch was ist überhaupt das Problem, das Durieu in der Verwendung des feinen Kamelhaarpinsels und des Graphitstaubs für die Verbesserung von Fotografien erblickt?
Ihm geht es um die Fotografie als solche und um ihre Zukunft als Kunst, die hier leichtfertig verspielt werde. Bei jeder Kunst, so argumentiert er, komme es darauf an, im Herzen der Menschen den Sinn für das Schöne zu erwecken, aber eine jede Kunstform beruhe auf unterschiedlichen materiellen Grundlagen und verfolge jeweils andere Wege und Verfahren.
Diese führen dann zu einer Differenzierung der verschiedenen Künste und schließlich auch zu ihrer Unverwechselbarkeit und Individualität. Eine jede Kunstart müsse ihre ureigenste Kraft in ihr selbst finden, in der Verwendung der ihr spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten. Wenn man daher nun den Pinsel der Malerei um Hilfe ersucht, um Fotografien zu retuschieren, so schließe man die Möglichkeit einer genuin fotografischen Kunst aus, da man die Identität der Fotografie preisgebe.
Die echte, wahre, reine Fotografie müsse hingegen ohne die Hilfe der Malerei auskommen und auf ihre Weise und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Bilder erzeugen, die perfekt seien. Öffne man hingegen einer anderen Kunstform die Tür, so erzeuge man dadurch hybride Bilder, die mit der reinen Fotografie nichts mehr zu tun haben. Man lasse gewissermaßen den Konkurrenten, ja den Feind ins Haus und verrate das Wesen der Lichtbilder.
Die Fotografie sei nämlich, so Durieu, «die Kunst, Bilder festzuhalten, die die Natur biete, ohne dabei auf den Zeichner zurückzugreifen» («l’art de fixer, sans avoir recours au dessinateur, les images qu’offre la nature).» [2] Fotografische Bilder werden eben mit dem «Zeichenstift der Natur» angefertigt, nicht aber mit jenem in der Hand der Maler oder Malerinnen.
Dieser sei aus dem fotografischen Verfahren prinzipiell auszuschließen. Fotografien sind Bilder, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass der Fotograf in den Prozess nicht verändernd eingreift. Das mache die medienspezifische Besonderheit der Fotografie aus, die auf dem Spiel stehe, wenn man beginne, die Bilder zu «verschönern».
«Genauigkeit» (sincérité) und «Darstellungstreue» (exactitude) seien die spezifisch fotografischen Qualitäten, die bedroht seien, wenn man die Retusche als Verfahren einer vermeintlichen Verbesserung zulässt. Dann nämlich könne die Fotografie gleich auf die Perfektion verzichten und ihre Herstellung dem Pinsel überlassen. Deshalb bedrohe die Retusche den Fortschritt, aber auch die Identität der Fotografie. Wir sehen: Hier werden Glaubenskämpfe ausgetragen, die gleich die ganze Rhetorik von Religions- und Kulturkriegen mobilisieren.
Den von Durieu und Périer aufgeworfenen Fragen und die durch sie vertretenen Überzeugungen begegnen wir im Prinzip bis zum heutigen Tag, allerdings stehen sie nun für unterschiedliche Felder der fotografischen Praxis. Während Durieu mit seinem „Puritanismus“, der mit dieser Bezeichnung auch willentlich-wissentlich das moralische Register bedient, nach wie vor für weite Teile der Pressefotografie steht, bei der Nachbearbeitungen verpönt sind und, sollten sie detektiert werden, zur Aberkennung von Preisen und Aufträgen führen, haben die künstlerische und angewandte Fotografie, aber auch weite Teile der fotografischen Praxis im Alltag mit Périers «Liberalismus» keine Probleme.
An die Stelle des Pinsels und des Retuschierbestecks, das man schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts samt der dazugehörigen Apparate käuflich erwerben konnte, sind nun Computerprogramme und vorab installierte Bildbearbeitungstools und Filter getreten.
«Positiv- wie Negativretuschen haben das Bestreben, sich unsichtbar zu machen, Kolorierungen von Abzügen sollen hingegen effektsicher leuchten und strahlen.»
Das Prinzip hat sich hingegen nicht verändert, wie die Definition einer der Anleitungen zur Retusche zeigt, die in Deutschland in recht großer Zahl seit 1860 in Buchform oder als Broschüren auf den Markt kamen: «Das in der praktischen Photographie allgemein angewendete Wort ‚Retouche‘ ist französischen Ursprungs und bedeutet soviel als Überarbeitung oder Verbesserung.» [3]
Es geht also um die Korrektur von Fehlern oder zumindest um die Verbesserung eines Negativs oder Positivs im Sinne eines angestrebten Bildes, das, aus welchen Gründen auch immer, die fotografische Vorlage nicht bieten kann.
Retusche, französisch «retouche», meint eigentlich «noch einmal berühren» und ist bereits in der Kunstliteratur seit dem 15. Jahrhundert, also weit vor der Fotografie nachweisbar. [4] In der Geschichte der Fotografie taucht sie als Praxis bereits seit ihren Anfängen auf und verzeichnet dann, selbst wenn man nur das 19. Jahrhundert betrachtet, eine irrlichternde Karriere. Sie wird gelobt und gepriesen, verdammt und verurteilt, als Möglichkeit der Verwandlung von Fotografien in Kunstwerke entdeckt und, wie wir gesehen haben, als Verleugnung der fotografischen Natur der Bilder kritisiert.
Noch dazu setzt die Retusche an sehr unterschiedlichen Momenten der fotografischen Prozesse ein und verfolgt dabei auch ebenso unterschiedliche Ziele: Retuschiert werden Negative, was sich dann natürlich auf alle von ihnen angefertigten Abzüge auswirkt, aber auch Positive, sprich einzelne Fotografien.
Und dies geschieht, um bestimmte Fehler der Fotografien hinsichtlich der angestrebten Bilder zu korrigieren, aber auch um etwas ins Bild zu bringen, was diesem aufgrund der technischen Grenzen der fotografischen Verfahren notwendig fehlt, wie z.B. Farbe oder Wolken. Die Retusche ist eine bereits seit den 1840er Jahren weit verbreitete Praxis der Bildmanipulation und das im Wortsinn, da man mit den Händen gezielt Veränderungen an den Bildern vornimmt.
Man greift zum Pinsel, zum Schaber, zu Schablonen oder auch zum Aquarellkasten, zum Lack oder zur Chinatusche, um etwas wegzunehmen, zu ergänzen oder zu korrigieren. Man kaschierte oder maskierte den Himmel oder den Hintergrund, ergänzte Wolkenformationen oder korrigierte stillschweigend Hautunreinheiten der Portraitierten.
Manchmal waren die Veränderungen unübersehbar, wenn man etwa eine Portraitaufnahme pastos übermalte oder Albuminabzüge oder Cartes de Visite-Aufnahmen kolorierte; oft sollten die Eingriffe aber unsichtbar und für die Betrachterinnen und Betrachter unmerklich sein. Man kann es auf eine Formel bringen: Positiv- wie Negativretuschen haben das Bestreben, sich unsichtbar zu machen, Kolorierungen von Abzügen sollen hingegen effektsicher leuchten und strahlen.
Die Retusche gehört zugleich zu jener Gruppe von Tätigkeiten, die sich zwar stillschweigend durchsetzten, ohne dass aber die Gruppe derjenigen, die sie praktizieren, wirklich stolz auf sie wäre.
Das illustriert in erhellender anekdotischer Zuspitzung die Rezeption, die dem Münchner Fotografen Franz Hanfstaengl widerfährt, der auf der Pariser Weltausstellung 1855 für seine Präsentation einer Fotografie in doppelter Gestalt, nämlich vor und nach der Retusche, mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde.
In dem von Durieu gerade wegen seiner Anmerkungen zur Retusche scharf kritisierten Bericht von Périer wird er eher beiläufig erwähnt, trägt dort aber bereits den Namen François Hanfstangl. [5]
Mehrere Jahrzehnte später sollte dann der berühmte Fotograf Félix Tournachon alias Nadar in seinem sehr anekdotischen Buch «Quand j‘étais photograph» (Als ich Fotograf war), das vorab in Einzellieferungen in der Zeitschrift seines Sohnes Paul 'Paris-Photographe' erschien, seinen Namen in «Hampsteingl» verballhornen und ihm die Schuld für den Sündenfall einer Fotografie, die sich der Retusche verschrieben hatte, in die Schuhe schieben. Nadar erinnert sich jedenfalls an dessen Exponate auf der Weltausstellung 1855:
«Die Retusche von Fotos […] war gerade von einem Deutschen namens Hampsteingl aus München erfunden worden, der am Ende einer der Ausstellungsgalerien ein retuschiertes Foto mit Abzügen vor und nach der Retusche durchsichtig aufgehängt hatte. Dieses Bild eröffnete eine völlig neue Ära der Fotografie, und man kann davon ausgehen, dass es an Neugierigen nicht mangelte. Die Zustimmung war allgemein, vor allem von den interessiertesten Leuten, den ‚Professionellen‘. Man hatte sogleich gesehen, welche Hilfe diese glückselige Entdeckung dieses Hampsteingl für uns sein würde, eine Unterstützung, die von allen gefordert wurden, ohne sie zu kennen, und von allen vermutet, ohne sie zu erahnen.» [6]
Nadar vermutet, dass der Fotograf Adam Salomon, der bei Hanfstaengl gelernt habe, diese Technik dann nach Frankreich importiert habe.
Die Franzosen wollen es jeweils nicht gewesen sein. Das Unwohlsein blieb – und das auch auf der anderen Seite des Rheins. Es gibt, heißt es 1864 in einem Artikel der 'Photographischen Correspondenz', «viele Photographen, welchen jeder Pinselstrich an einer Photographie ein unheimliches Frösteln verursacht. Wir gestehen, dass uns das Retouchiren der Negative als ein pikantes Verbrechen erscheint». [7]
Aber es ist eines, bei dem man straffrei davonkommt. Das ist im Prinzip bis zum heutigen Tag der Fall. Wenn wir heute etwa eine Modezeitschrift aufschlagen oder Plakate von Werbekampagnen betrachten, so sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle Bilder massiv retuschiert oder nachbearbeitet, aber zum Thema wird diese Praxis nicht.
Der französische Fotohistoriker André Gunthert hat daher die Retusche als «une pratique sans histoire», als «Praxis ohne Geschichte» bezeichnet, da sie nur über kurze Zeiträume hinweg zum Gegenstand von Diskussionen wurde, und man sie ansonsten einfach stillschweigend praktizierte. [8] Tritt sie aber auf den Plan, so geht es um Grundsätzliches, um die Fotografie als solche.
Gunthert stellte etwa fest, dass in Frankreich, England und Deutschland die kontroversen Debatten über Retusche durchweg unmittelbar nach der Gründung der fotografischen Institutionen und ihrer publizistischen Organe geführt wurden. Bevor die Institutionen das tun, was sie gesellschaftlich tun haben, nämlich ein Feld zu ordnen, zu strukturieren und zu reglementieren, muss man sich über die gemeinsamen Prinzipien verständigen.
Die Retusche ist eine Sollbruchstelle, wenn es darum geht, in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu klären, was die Fotografie sein soll und was sie eben nicht sein soll. Es geht um die Festlegung von Spielregeln für die Fotografie als solche, um ihre Absetzung von anderen Bereichen und hier insbesondere der Bildenden Kunst, sprich um eine Selbstverständigung über die Frage, was die Fotografie sein soll.
1868, also dreizehn Jahre nach Durieu, publiziert der «akad. Maler» Adolph von Goetz in der Photographischen Correspondenz den Artikel «Die Retouche der Photographien», der deutlich macht, dass die Fotografie der Verbesserung mittels Pinseln, Farben, Graphitstaub und graphischen Verfahren wie Instrumenten mittlerweile Tür und Tor geöffnet hat und die Retusche zu einer omnipräsenten Praxis geworden ist.
Früher, so führt er aus, versuchte man noch Aufnahmen anzufertigen, ohne dass eine «Nachhülfe im positiven Bilde nöthig sein sollte», heute gehe man hingegen davon aus, «dass ohne Nachhülfe, wenigstens im Portraitfache, gar keine vollkommenen Bilder erzeugt werden können». [9] Daher sei die Retusche eine bewährte Praxis. Diese Beobachtung wird auch durch Fakten unterstützt: «Retuscheur» ist mittlerweile zu einer regelrechten Berufsbezeichnung geworden.
Kaum ein Atelier wird auf sie verzichten, selbst wenn es mit Aufnahmen «ohne Retouche» wirbt, und in den Fotozeitschriften finden sich regelmäßig Inserate im Stellenteil, die nach ihnen suchen. Das Atelier von Adolphe Braun hatte etwa angeblich 30-40 Angestellte, die sich ausschließlich um die Nachbearbeitung und «Verschönerung» der Negative und Abzüge kümmerten.
Ähnliches gilt aber auch für die anderen großen Studios in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die auch bei der Anlage der Räume eine Kammer für die Retoucheure vorsahen. Im opulenten Atelier von Joseph Albert in München befand sich etwa die «sogenannte Retoucheur- oder Malergallerie» unter dem Empfangssalon, in dem immerhin eine «Venus» von Hans Makart stand, und war «mit den anderen Localitäten durch Sprachrohre in steter Verbindung». Sie sei mit ihren 8-10 Staffeleien, an denen fortwährend gearbeitet werde, «das Herz, der Knotenpunkt der ganzen Anstalt». [10]
Zugleich kommen auch seit den 1860er Jahren Handbücher heraus, die mitunter mehrere Auflagen verzeichnen, also offenkundig nachgefragt waren. Das erste von ihnen war eine Übersetzung einer Artikelfolge von William Crookes 'Das Retuschieren und Kolorieren der Photographien', die 1861 in Weimar erschien.
Der Naturwissenschaftler Crookes war seinerzeit Herausgeber der 'Photographic News', hatte dann aber ab Anfang der 1860er-Jahre auch mit anderen Fragen der Bildmanipulation zu tun, da er gegen Ende seines Lebens überzeugter Spiritist war, die Authentizität der von ihm publizierten Fotos der Séancen allerdings bereits zu Lebzeiten mehr als nur umstritten waren. Mitunter verwandeln aber bereits die Retuschen die Dargestellten in gespensterhafte Erscheinungen, wie diese kleine Aufnahme zeigt.
Übermalte Ambrotypie, um 1860. Sammlung Stiegler
Von Retuschen auf Portraitaufnahmen zu spiritistischen Fotos scheint es ein großer Schritt zu sein, aber de facto handelt es sich um das gleiche Problem, das Durieu bereits in aller Deutlichkeit formuliert hatte: Können wir davon ausgehen, dass wir es bei einer Fotografie mit einer Aufnahme zu tun haben, die nicht manipuliert ist? Können wir ihr vertrauen oder werden wir kunstvoll hinters Licht geführt? Handelt es sich um ein «authentisches» Bild, das den Regeln der «mechanischen Objektivität» entspricht, oder um eine Aufnahme, die, mit welchen Verfahren auch immer, im Sinne einer angestrebten Bildwirkung verändert wurde? [11]
Die Bilder selber geben hier oft kaum Anhaltspunkte und sind zumeist nur für Spezialisten als manipulierte zu identifizieren. Beide, die Verfahren der Retusche wie die Bildbearbeitungen der spiritistischen Fotografie, versuchen nämlich, die Eingriffe möglichst zu kaschieren und unsichtbar zu machen. Wir haben es bereits im 19. Jahrhundert mit durchaus komplexen Aufgaben für die Bildforensik zu tun.
Adolph von Goetz unterscheidet in seinem Artikel weiterhin drei unterschiedliche Bereiche der Retusche, die jeweils andere Techniken, aber auch Materialien erfordern: die Negativ- und Positivretusche sowie das Kolorieren.[12] Sein Beitrag ist nur einer unter vielen, die technisch versiert die Möglichkeiten und Verfahren der Retusche erläutern.
Sie sind fortan Teil der fotografischen Fachliteratur, die ideologisch unaufgeregt erläutert, wie technische Probleme zu meistern und befriedigende Ergebnisse zu erzielen sind. Gleichwohl verschwindet keineswegs das Unbehagen angesichts der Eingriffe. «Ein Gefühl der Menschlichkeit», schreibt der Fotograf Neilson 1875, «lässt uns Mitleid mit der nächsten Generation empfinden, die ihre Väter so brillant retuschiert sieht, so als ob die Originale von Leprose befallen gewesen seien. Retuschieren ist in jedem Fall ein Fehler. Mit der Kunst ist nicht spielen; Tricks und Finten sind ihrer Natur fremd. Jede Kunst ist in sich selbst vollkommen – nur sich selbst verpflichtet.»[13]
Doch die Fotografie, die sich in der Theorie in zahlreichen Texten als neue Bildwelt beschreibt, die im Gegensatz zur Malerei aufgrund ihrer medialen Besonderheit der absoluten Naturtreue verpflichtet sei, hat in der Praxis längst eine nachträgliche Bildbearbeitung zugelassen.
Durieus Warnruf blieb ungehört und die Dinge werden fortan kompliziert.
Lesen Sie mehr von Bernd Stiegler «Fotografie und Vergessen»
Mehr ReVue
passieren lassen?
Der ReVue Newsletter erscheint einmal im Monat. Immer dann, wenn ein neuer Artikel online geht. Hier en passant abonnieren.
Sie möchten unsere Arbeit
mit einer Spende unterstützen?
Hier en passant spenden!
Fotografie ist allgegenwärtig, wird aber in den journalistischen Medien noch wenig hinterfragt oder erklärt. Wer an Journalismus denkt, denkt an Texte. Das digitale Magazin ReVue verfolgt einen anderen Ansatz: Es nähert sich den Themen vom Bild her. In unseren Beiträgen untersuchen wir die Rolle und Funktion von Bildern im Verhältnis zum Text, zur Wahrheit, zum politischen oder historischen Kontext. Wie nehmen wir Bilder wahr? Welche Geschichte steckt dahinter?
Unsere Beiträge erscheinen auf Deutsch, wir übersetzen aber auch fremdsprachige Texte und erleichtern so den Wissenstransfer zu einer deutschsprachigen Leserschaft.
ReVue ist unabhängig. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich. ReVue ist ein Projekt der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.
Herausgeberin
DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V.
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin
ReVue ISSN2750–7238
ReVue wird unterstützt von