Theorie
«Alle anderen Bilder sind echt.»
Text — Steffen Siegel – 1. April 2023
Wir können nur spekulieren, wie sich vor mehr als einhundert Jahren die deutsche Öffentlichkeit den Urlaub des Reichskanzlers vorgestellt haben mag. Eines jedoch lässt sich sagen: So, wie es die «Berliner Illustrirte Zeitung» (B.I.Z.) im Frühjahr 1910 ihren Leserinnen und Lesern präsentierte, gewiss nicht (Abb. 1 unten). Zu dieser Zeit war Theobald von Bethmann Hollweg ein Dreivierteljahr im Amt.
Nach der «Daily-Telegraph-Affäre», die seinem Vorgänger Bernhard von Bülow das Amt gekostet hatte, lagen aufreibende Monate hinter ihm, in denen es außen- wie innenpolitisch einiges zu begradigen galt. Seinen Osterurlaub jedenfalls hatte sich Bethmann Hollweg wohl verdient; und auch Rom mochte als Reiseziel eingeleuchtet haben. Dennoch wird die B.I.Z. ihre Leserschaft irritiert haben. Denn für den durchaus sonderbaren Umstand, dass der jüngst zurückgetretene Reichskanzler mit seinem Nachfolger an Ostern im Tiber baden ging, findet sich im Innenteil des Magazins keine weitere Erläuterung.
So müsste die Abbildung auf dem Umschlag ganz für sich alleine sprechen, wäre sie nicht am rechten oberen Seitenrand um eine Betrachtungsanweisung ergänzt worden. Datiert ist die 14. Ausgabe des 19. Jahrgangs auf einen besonderen Tag: den 1. April 1910.
Mindestens auf den zweiten Blick trägt dieses Titelbild alle Zeichen einer Karikatur. Das politische Temperament der beiden Politiker spiegelt sich in ihrem Badeverhalten. Zur Rechten ist ein draufgängerischer Bernhard von Bülow zu sehen, der munter planschend seinen Ruhestand genießt. Ihm zur Seite steht der für sein Zaudern bekannte Bethmann Hollweg, der alles versucht haben soll, seine Ernennung zum Reichskanzler abzuwenden.
Das Wasser jedenfalls war ihm offenkundig noch zu kalt. Ob dies auch der Grund ist, warum Conte de Menti, eingeführt als Bülows Privatsekretär, im Hintergrund eine bizarre Grimasse zieht, mag dahin gestellt bleiben. Das Bild erweist sich als eine geschickte Montage, die grafische und fotografische Elemente miteinander verbindet und zu einem Schaubild der seinerzeit aktuellen politischen Landschaft verdichtet.
In derselben Ausgabe vom 1. April 1910 berichtete die B.I.Z. von der Atlantik-Überfahrt von – sagenhaft genug! – 200 Spreewälder Ammen, denen bei ihrer Ankunft in New York ein triumphaler Empfang bereitet wurde. Sie waren, wie das Blatt zu berichten wusste, vom amerikanischen Großbankier John Pierpont Morgan bestellt worden, um von seinen Vertrauensärzten «die gesündeste und kräftigste als Nährmutter für seinen Enkel» [1] aussuchen zu lassen.
Mochte sich diese Reportage selbst leichtgläubigen Gemütern als eine allzu groteske Überzeichnung eines Reproduktions-Ehrgeizes enttarnt haben, so ist keineswegs ausgemacht, ob dies auch auf jenen Artikel zutrifft, der genau eine Seite zuvor über amerikanische Experimente mit radioaktivem Düngemittel berichtet. Der Ertrag von über drei Meter hohem Weizen nimmt sich in der zugehörenden Illustration ohne Zweifel eindrucksvoll und – wer weiß? – überzeugend aus (Abb. 2).
Schließlich aber würden wir uns wenigstens in unserer eigenen Zeit kaum noch darüber wundern, dass in der Lüneburger Heide ein großer Luftschiff-Hafen eröffnet worden sein soll, der für die Mannschaften von vier «Luftschiffer-Bataillonen» Platz bietet und, wie die Redakteure unterstreichen, einzig zivilen Zwecken dienen wird (Abb. 3).
Die Präsenz von auffällig vielen uniformierten Männern mochte etwas anderes nahelegen, doch zeigt ein weiteres Bild im unteren Drittel der Seite nicht allein die gemeinsame Ballonfahrt von Reinhard Mannesmann mit dem marokkanischen Gesandten, sondern auch ein von Industrie wie Diplomatie geteiltes Interesse an speziell dieser Form des Fortschritts.
Abb. 3: In der B.I.Z.-Ausgabe vom 1. April 1910 (Innenteil).
Als der Ullstein-Verlag im Jahr 1927 anlässlich seines fünfzigjährigen Bestehens eine umfangreiche Festschrift herausgab, durfte ein eigener Beitrag über die B.I.Z. nicht fehlen. Diese illustrierte Wochenzeitung war nicht die erste ihrer Art in Deutschland; dies war die seit 1843 in Leipzig verlegte «Illustrirte Zeitung». Sehr wohl aber war die B.I.Z. für Jahrzehnte das erfolgreichste und mit einer Auflage in mehrfacher Millionenhöhe für den Berliner Verlag auch das ökonomisch rentabelste Produkt.[2]
So muss nicht überraschen, dass ihr langjähriger Chefredakteur Kurt Korff mit erkennbarem Selbstbewusstsein im Jubiläumsbuch über die Geschichte der B.I.Z. berichtete und vor allem auf eine ganze Reihe von Innovationen hinwies, die für die Presselandschaft insgesamt vorbildlich sein würden. Seit 1903 gehörte zu diesen Ideen der fotografische Aprilscherz.[3] Als Erfinder dieser besonderen Form der Magazinillustration benannte Korff den Berliner Fotografen (und späteren Hotelbesitzer) Georg Busse. Mochte er als Atelierfotograf auf eher konventionelle Weise tätig gewesen sein, so lassen seine Fotomontagen, die er als freier Mitarbeiter der B.I.Z. lieferte, eine vollkommen andere Bildsprache erkennen.
Sogleich die erste von ihnen, erschienen in einer als «Erste April-Nummer 1903» ausgewiesenen Ausgabe, verrät einen bildnerischen Witz, der weit mehr als ein visueller Kalauer sein will (Abb. 4). Angekündigt als «Berlins neueste Sensation»,[4] zeigt Busse den «Seiltänzer Otto Kornemann, dessen Produktion in der Friedrichstrasse am vorigen Mittwoch eine riesige Verkehrsstockung hervorrief».[5]
Was die B.I.Z. ihrem Publikum hier zu sehen und in einem kurzen Text auch zu lesen gab, hat gewiss alle Erwartungen an eine moderne Großstadt erfüllt: Ein bis dahin unbekannter Wiedergänger des französischen Artisten Charles Blondin gibt seine waghalsigen Künste in – oder besser über – der Friedrichstraße zum Besten.
Die gewitzte Überzeichnung dürfte dem Selbstbild der Berliner geschmeichelt haben. Noch im selben Jahr begann Busse mit großem Erfolg, seine satirischen Fotomontagen unter dem Titel «Was Alles in Berlin passiert» auch als Bildpostkarten-Serie zu verlegen und dabei stets die unwahrscheinliche Sensation mit bildnerischen Mitteln herauszufordern.[6] «Eine Raubtier-Karawane aus unseren Colonieen passiert das Brandenburger Tor» heißt eine von ihnen, eine andere zeigt «Berlin als Seestadt» mit dem gefluteten Lustgarten als neuem Hafen direkt am Schloss (Abb. 5). Ob sie dem marinevernarrten Kaiser gefallen hat?
Was Busse für einige Jahre im Berliner Verlag Novitas als «Scherz-Aufnahmen» im Postkartenformat verlegte, konnte auf den Seiten einer illustrierten Wochenzeitung eine ganz andere Kraft entfalten. Zur Herausforderung der Leserschaft war die B.I.Z. der ideale Ort. Denn ausgeliefert wurde sie in zwei verschiedenen, getrennt voneinander gefalteten und ineinander gelegten Teilen: zum einen mit Artikeln zur gesellschaftspolitischen Berichterstattung, Bildreportagen und Porträts von Personen des öffentlichen Interesses; zum anderen als ein Unterhaltungsblatt mit Fortsetzungsromanen, Karikaturen und Kreuzworträtseln.
Weder ging die B.I.Z. im politischen Anspruch der Tageszeitungen auf, noch bediente sie allein ein gesellschaftssatirisches Segment wie etwa der ebenfalls wöchentlich erscheinende «Simplicissismus». In einem eigenen Raum, der sich zwischen diesen beiden journalistischen Typen öffnete, platzierten die Redakteure der B.I.Z. seit 1903 einmal jährlich eine Ausgabe, die sich als eine angewandte Form der Fototheorie wahrnehmen lässt. Dabei mochte die eher weit gespannte Periode von einem April auf den nächsten geholfen haben, das Spiel mit den Ambiguitäten aufrecht zu erhalten.
Stets im April wurde dabei auf humoristische Weise Kurzurlaub von der Evidenz genommen: zur Impfung eines Publikums, für das der Umgang mit der Fotografie als Nachrichtenmedium überhaupt erst eine Selbstverständlichkeit werden musste.[7]
Selbst wenn diese Ausgaben zum 1. April vorderhand von der Lust zur Albernheit getragen waren, so lässt sich in den Spalten der B.I.Z. aber auch ablesen, dass der Redaktion ein Risiko bewusst war, das sie mit diesen Spielen einging: Indem stets im Frühjahr die journalistische Glaubwürdigkeit mit Vorsatz suspendiert wurde, stellte sie ihre wichtigste Ressource auf die Probe. Sie tat dies ausgerechnet mit jenem Instrument der Illustration, das – als ein visuelles Faktizitätszeugnis – den Markenkern der Wochenzeitung ausmachte.
Es kann daher nicht überraschen, dass jede Ausgabe mit solch fotografischen Faktenexperimenten bereits in der folgenden Woche durch einen weiteren Artikel kommentiert wurde, der die Aprilscherze offenlegte. In der zweiten April-Nummer jenes Jahres 1910, in dem die B.I.Z. die beiden Reichskanzler gemeinsam in den Tiber steigen ließ, schloss sie ihre Auflösung mit einer fototheoretisch bemerkenswerten Versicherung ab: «Alle anderen Bilder […] sind echt. Wir garantieren dafür!»[8]
Fake, Humbug, Hoax, Ente, Tartarenmeldung, Grubenhund – schon die Vielfalt an Begriffen zeigt an, dass die Falschmeldung nicht allein zur Geschichte des Journalismus gehört, sondern auch nach einer näheren Differenzierung verlangt. Es ist offenkundig, dass die in unsere eigene Zeit fallende Rede von «fake news» und «Lügenpresse» von anderer politischer Tragweite ist als jene in Bildform entfalteten Aprilscherze, wie sie die B.I.Z. und, ihrem Vorbild folgend, später auch andere Illustrierte einmal jährlich druckten.
Trotz aller Unterschiede lässt sich in verallgemeinernder Weise nach einer Poetik und nach rhetorischen Strategien fragen, mit denen Nachrichtenmedien die von ihnen berichteten Informationen als Fakten einkleiden und hierbei versuchen, ihnen Objektivität zu verleihen – oder aber es muss im sogenannten «postfaktischen Zeitalter» gefragt werden, wie gerade dies diskreditierend unterlaufen werden soll.[9]
Die Geschichte dieser Spannung zwischen Authentizität und «fake» lässt sich, wie Volker Barth und Michael Homberg unterstrichen haben, bis «in die Formationsphase der modernen Presse»[10] zurückverfolgen. Geschrieben werden kann die Geschichte des modernen Journalismus nicht allein als eine fortlaufende Arbeit daran, publizistisch «eine stabile und verlässliche soziale Orientierung»[11] zu bieten, sondern auch als ein fallweises Scheitern eben dieser Absicht.
So ist es kein Zufall, dass an die Seite von umfangreichen Kompendien zu Geschichte und Theorie des Pressewesens[12] längst schon ein ganzes Buchgenre getreten ist, das die journalistische Faktenproduktion ex negativo als eine Geschichte der Missinformationen erzählt.[13] Sieht man einmal vom – vermutlich häufigsten – Fall einer Falschmeldung ab, die auf einer nur unzureichend geprüften Quellenlage beruht und als eigentlicher Unfall der journalistischen Sorgfaltspflicht gelten kann, so sind für eine nähere Differenzierung vor allem jene «fakes» von Interesse, denen ein redaktioneller Vorsatz vorausgeht oder die sich wenigstens auf die Täuschungsabsicht eines einzelnen Autors zurückführen lassen.[14]
Die im August 1835 in New York Sun erschienene und als «The Great Moon Hoax» bekannt gewordene Artikelserie ist nicht allein ein frühes Beispiel, sondern mit sechs Texten auch ein besonders umfangreiches.[15] Angesichts des internationalen Echos, das diese als journalistischer Tatsachenbericht veröffentlichte Science-Fiction-Geschichte von Fledermaus-Menschen auf dem Mond auslöste, kann sie noch heute als Muster für die Funktionsweise der Massenmedien der frühen Moderne betrachtet werden.
Speziell aus fotogeschichtlicher Sicht ist hierbei von besonderem Interesse, dass diese Artikel noch Jahre später in ganz anderer Sache nachwirkten. Denn hatte der britische Naturwissenschaftler John Herschel beim «Great Moon Hoax» eine unfreiwillige Hauptrolle gespielt, so musste das erneute Erscheinen seines Namens im Zusammenhang mit den ersten publizierten Nachrichten von fotografischen Bildern durchaus Skepsis hervorrufen.
So wenig von einem Bilder-Schwindel die Rede sein konnte, so sehr lässt sich in einer bemerkenswert großen Zahl von Pressekommentaren aus dem Jahr 1839 ablesen, wie das bloße Hörensagen von einer nächsten naturwissenschaftlich-technologischen Sensation als Beglaubigung kaum hinreichte.[16]
Die Wahrhaftigkeit der aus Paris und London eintreffenden Berichte über erfolgreich durchgeführte fotografische Experimente mochte in der Folgezeit rasch außer Frage stehen. Für die Fotografien selbst, das heißt für die mit ihnen gegebenen Informationen, galt dies jedoch keineswegs. Denn so sehr sich bereits die frühesten, theoretisch gestimmten Kommentare zur Fotografie auch darum bemühten, den Wahrheitsgehalt der Kamerabilder zu betonen und ihre sich in kleinsten Details beweisende Naturtreue herauszustellen - an der grundsätzlichen Möglichkeit, fotografische Bilder auf sehr weitreichende Weise zu manipulieren, änderten alle diese Beteuerungen nichts.
Zwischen Montage und Retusche öffnet sich ein Spielraum, der für Fotografen in vielfacher Hinsicht interessant gewesen ist und den sie, spätestens seit den 1850er Jahren, auch weithin ausgeschritten haben.[17] Solche Manipulationen ereignen sich auf einem schmalen Grat zwischen Zuspitzung und Verfälschung der Bildaussage. Allerdings begannen solche Fragen für die journalistische Berichterstattung verhältnismäßig spät eine Rolle zu spielen: erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich drucktechnische Möglichkeiten zu eröffnen begannen, fotografische Bilder in hoher Auflage und guter Qualität zur Illustration von Zeitungen und Zeitschriften heranzuziehen.[18]
Zu dieser Zeit hatte sich nicht allein ein manipulierender Umgang mit fotografischen Bildern als ein selbstverständlicher Teil der Anwendung dieses Mediums etabliert[19] und war längst schon in das Handbuchwissen zur Fotografie eingewandert.[20] Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltete es sich auch als ein theoretisches Problem des Mediengebrauchs.
In seiner Betrachtung von montierten Fotografien aus eben dieser Zeit, die sich auf Ereignisse von zeitgeschichtlicher Bedeutung beziehen, hat der kanadische Fotohistoriker Jordan Bear zwei verschiedene Typen unterschieden: Montagen, die ihre manipulierte Faktur zu erkennen geben oder sogar ausstellen und demgegenüber solche, in denen die vorausgesetzten Eingriffe kaschiert werden sollen.[21]
Für den New Yorker Zeitungsverleger Ralph Pulitzer war klar, wie diese beiden Formen von Fotomontage im journalistischen Kontext zu bewerten seien: Während es für den ersten Typ schlicht keinen Platz geben sollte, betrachtete er den zweiten als ein echtes Ärgernis.[22] Anlässlich einer im Dezember 1912 vor der jüngst eröffneten Pulitzer School of Journalism gehaltenen Rede beschrieb er diese neue Möglichkeit des Bildjournalismus als eine Gefahr für jenes Ideal, dem er seine Ansprache an der Columbia University widmete: Wahrheit. «The newspaper is manufactured out of the subtlest, most volatile, most elusive raw material in the world – the truth. (Eine Zeitung wird aus dem feinsten, flüchtigsten und schwer fassbaren Rohstoff der Welt hergestellt - der Wahrheit).»[23]
«Alle anderen Bilder sind echt», hatte die Redaktion der B.I.Z. versichert, damit allerdings indirekt auch zum Ausdruck gebracht, dass solche Fragen der Authentizität längst eine brüchige Angelegenheit geworden waren.[24] Die jährlich in der ersten April-Nummer entfaltete Unzuverlässigkeit der visuellen Kommunikation lässt sich als ein Angebot betrachten, eben diesen Zusammenhang von fotografischem Bild und journalistischer Glaubwürdigkeit mit eigenen Augen zu prüfen.
Vorderhand gedacht waren solche Ausgaben gewiss als ein besonders extensiver, das gesamte Heft erfassender Scherz. Doch lassen sie sich auch als eine Form der Selbstreflexion auffassen, die die Grundlagen des Mediums und der mit ihr einhergehenden Kommunikationsformen betreffen. Wenn der technische Fortschritt zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ethos des Journalismus herausgefordert hat, so öffnete sich hierbei – für Produzenten wie Rezipienten gleichermaßen – eine Möglichkeit der Kontrolle, wie weit sich die Spielräume in der visuellen Berichterstattung tatsächlich ausdehnen ließen. Der Fakt wird zum Gegenstand des journalistischen Experiments.
Mit Blick auf die den «fakes» eingeschriebene Struktur von Täuschung und Enttäuschung hatten Volker Barth und Michael Homberg treffend von «Kippfiguren des Journalismus»[25] gesprochen. In den meisten Fällen machte es die Redaktion der B.I.Z. ihren Lesern verhältnismäßig leicht, die von ihr gestreuten Falschmeldungen als solche zu enttarnen, die Schwindel also «umkippen» zu lassen.
Signale der Störung[26] sendete sie jedenfalls in hinreichend großer Zahl: Nicht allein wurden die Ausgaben zum 1. April fast immer auf diesen Tag datiert, auch wenn er nicht auf einen Donnerstag fiel, an dem das Magazin traditionellerweise erschienen ist. Wer sich die Mühe machte, zwinkernde Bildnachweise wie «phot. Sharper & Swindler» oder «Copyright by the International Lying Co. Limited» zu lesen, konnte ohne größere Mühe wissen, woran er oder sie war.
Allerdings hielt dies die Redaktion nicht davon ab, in einigen Ausgaben den journalistischen Aufwand bemerkenswert weit zu treiben und den Aprilscherz in Form einer ganzen Reportage zu entfalten. Im Jahr 1908 etwa wurde bereits auf dem Titelblatt von William K. Goldacker, einem «Wohltäter der Menschheit», berichtet, der in den Vereinigten Staaten im Holzhandel zu Geld gekommen sei und nun die Absicht hatte, allen Einwohnern seiner deutschen Heimatstadt Kohlfurt (!), die genau wie er im Jahr 1843 geboren worden waren, eine Summe von 16,5 Millionen Mark zu spenden – 113 000 Mark für jeden einzelnen.
Mindestens in der Rückschau ist das Bild von der jubelnden Menge (Abb. 8), die sich auf dem Kohlfurter Markt versammelt hat, auch deswegen witzig, da es auf derselben Seite mit einer Fotografie kombiniert wurde, die den Kaiser bei der Besichtigung einer neuen Linie der Untergrundbahn im Charlottenburger Westend zeigt. Von heute aus betrachtet ist es bei diesem Nebeneinander zweier Fotografien fast unmöglich, nicht an Diederich Heßling aus Heinrich Manns «Der Untertan» zu denken.
Die Reportage, die die B.I.Z. vier Jahre später, anlässlich der Zweihundert-Jahrfeier des Zuchthauses in Celle, druckte, war in Umfang wie Inhalt ein danach kaum noch eingeholter Höhepunkt solcher Aprilscherze. Bereits auf dem Titelblatt wird in einer in ihrem Witz noch immer ansteckenden Fotomontage von den Alumni des Zuchthauses berichtet, die freudig nach Celle zurückkehren, um dieses besondere Jubiläum gemeinsam mit den aktuellen Insassen zu feiern (Abb. 9).
Im Innenteil des Magazins wird sodann in einer ausführlichen Reportage in Bild wie Text von den Feierlichkeiten berichtet und dabei besonders der «Minister des Innern von Dallwitz bei der Rede auf dem Hauptplatz in Celle» gewürdigt. Unverkennbar nimmt hier die journalistische Arbeit jene Methoden des Dadaismus vorweg, die sich nur wenige Zeit später als eine Kunstbewegung der Moderne entfalten werden.
Zu den in der jeweils folgenden Ausgabe gegebenen Auflösungen setzte die Redaktion bereits früh auch eine Auswahl von Briefen, in denen die Leserschaft die Aprilscherze kommentierte. Auf diese Weise ist es möglich, wenigstens in einigen wenigen Stichproben etwas von der Resonanz dieser journalistischen Faktenexperimente zu erfahren.
Allerdings müssen wir uns auch fragen, ob mit diesen Briefen die in der voraufgehenden Woche gemachten Scherze nicht eigentlich verlängert werden sollten. In der Ausgabe vom 10. April 1904 wird ein von Martha Hüstel, «Abonnentin der Berliner Illustrirten Zeitung» geschriebener Brief faksimiliert, der sich auf eine von Georg Busses Fotomontagen bezieht: «Der grosse Transport der Hagenbeckschen gezähmten Tiere vom Lehrter Bahnhof zum Zirkus Busch» (Abb. 10) durch das Brandenburger Tor.
Wie wichtig der B.I.Z. dieser Bildwitz tatsächlich war, wird allein durch die Tatsache angezeigt, dass ihm nicht allein eine ganze Seite eingeräumt wurde, sondern das Bild zudem ins Querformat gestürzt wurde – eine typografische Entscheidung, die sich in dieser Illustrierten nur äußerst selten findet. Offenbar sollte auch Frau Hüstel dazu in der Lage sein, die Voraussetzungen der von ihr im Leserbrief erwogenen Wette ganz genau zu prüfen. Dabei vergaß sie nicht zu erwähnen, dass hierzu nicht allein die im Bild gegebenen Informationen gehörten, sondern auch die Glaubwürdigkeit jenes Mediums, in dem es publiziert wurde: «Nein sage ich wenn es in dieser Zeitung doch steht.»[27]
Ob von der Redaktion fingiert oder als tatsächlicher Leserbrief eingegangen, mit dieser Bemerkung wird jener systematische Kern berührt, den alle diese Aprilscherze gemeinsam adressieren. In Anlehnung an eine viel zitierte verfassungsrechtliche Doktrin lässt sich sagen: Die journalistische Berichterstattung wird, um das Gebot der Authentizität zu wahren, von Voraussetzungen gerahmt, die sie selbst nicht vollständig garantieren kann, um die sie sich jedoch fortlaufend bemühen muss.
Die mutwillige Verkehrung in ihr Gegenteil, das heißt eine einmal jährlich sich ereignende Suspendierung konnte – neben allem vordergründigen Amüsement – im besten Fall dazu führen, die Leserschaft für eben diese Bedingungen zu sensibilisieren. In der 13. Ausgabe des Jahres 1908 ist dies auf paradigmatische Weise verdichtet worden. Erschienen ist sie – ausweislich der Titelseite – am 29. März/1. April.
Ganz scheint es so, als solle das doppelte Datum auf eine zweifache Kodierung im Innenteil verweisen. Wer die Millionärsgeschichte aus Kohlfurt oder einen Bericht über Buffalo Bill, der mit seinem Pferd über Luzern fliegt, bereits als charmanten Blödsinn abgetan hatte, der wird wohl auch nicht daran geglaubt haben, dass in den Vereinigten Staaten Hochhäuser in ganzen 95 Tagen errichtet werden oder dass man beim persischen Militär das Exerzieren als eine sonderbare Form des Paartanzes aufführt (Abb. 11). Für beide Fälle beteuerte die Redaktion in der nächsten Ausgabe jedoch, dass diese Berichte der Wahrheit entsprächen.
«Wenn es in dieser Zeitung doch steht»
Keine Zeit für Scherze
Für solche Spiele mit der Ambiguität journalistischer Aussagen war seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs in der B.I.Z. kein Platz mehr. Nicht allein seinem äußeren Umfang nach veränderte sich das Magazin – in den Kriegsjahren erschien es mit deutlich weniger Seiten.
Seit dem Spätsommer 1914 konzentrierte sich die redaktionelle Berichterstattung fast ausschließlich auf das Geschehen auf den Schlachtfeldern. Mit Blick auf die dabei eingesetzten visuellen Medien spielten neben Fotografien vor allem Karten und die Skizzen der Frontverläufe eine Hauptrolle. Als am 1. April 1920 erstmals wieder auf dem Titelblatt der B.I.Z. ein Aprilscherz erschien, drückte bereits sein Gegenstand aus, wie sehr sich die Zeiten verändert hatten: Die Illustration zeigt die Freilegung eines unter der Zarenregierung angeblich vorsätzlich verschütteten Denkmals von Bolschew, dem angeblichen Begründer des Bolschewismus, in Werchojansk (Abb. 12).
Abb. 12: «Freilegung des Denkmals von Bolschew, dem Begründer des Bolschewismus, in Werchojansk.» B.I.Z., 1. April 1920 (Innenteil).
Kaum weniger tagesaktuell war im Innenteil eine Abbildung jenes Stahlpanzer-Tors am Eingang der Wilhelmstraße (Abb. 13), das, ausweislich der Bildunterschrift, «nach dem Kapp-Putsch zum Schutze der Regierungsgebäude gegen Überfälle eingebaut wurde».[28] Damit wurde eine für ein halbes Jahrzehnt unterbrochene Tradition wieder aufgenommen, die sodann während der gesamten Zwischenkriegszeit nicht allein von der B.I.Z. Jahr für Jahr fortgeführt wurde, sondern auch von Illustrierten wie zum Beispiel «Uhu» oder «Das Magazin».[29]
Das von László Moholy-Nagy geprägte und von Walter Benjamin in seiner «Kleinen Geschichte der Photographie» aufgegriffene Wort vom Fotografie-Unkundigen als dem Analphabeten der Zukunft, hätte ohne Weiteres auf diese jeweils im frühen April erschienenen Ausgaben gemünzt sein können.
«Noch niemals hat,» so schrieb Siegfried Kracauer 1927 in seinem Essay zur Fotografie, «eine Zeit so gut über sich Bescheid gewußt, wenn Bescheid wissen heißt: ein Bild von den Dingen haben, das ihnen im Sinne der Photographie ähnlich ist.»[30] Im sich aufheizenden Klima der Weimarer Republik betraf dieses auf Bilder gestützte Bescheid-Wissen längst weit mehr als die bloße Verfügbarkeit von Informationen.
Mit guten Gründen hat Daniel H. Magilow die in diese Zeit fallenden Aprilscherze als Symptom einer Krise gedeutet, die die erodierende Gesellschaft als Ganzes betraf.[31] So wenig man von einer politischen, die Zeitläufte minutiös spiegelnden Ikonographie der Aprilscherze sprechen kann, so sehr zeigt die mutwillig inszenierte, sich in den Bildern und ihren Paratexten ereignende Verformung der fotografischen Information, wie prekär die mediale Rahmung solcher Kommunikationen tatsächlich war.
Geradezu symptomatisch ist es daher, dass im Epochenjahr 1933 zwei Bücher erschienen, die sich aus sehr unterschiedlicher Perspektive der Presseillustration annahmen: Helmut Ratherts juristische Dissertation «Die Zeitungsillustration im Recht»[32] und Willy Stiewes medientheoretische Erörterung «Das Bild als Nachricht».[33] Was in den Aprilscherzen zu dieser Zeit seit mehr als drei Jahrzehnten praktisch vorgeführt worden war, das wurde nun als wissenschaftliches Problem diskutiert.
Im Ganzen unterschied Stiewe sechs Typen von «Bildfälschungen»: von der Inszenierung über die Montage, das Publizieren einer alten Aufnahme, einer falschen Bildunterschrift, einer irreführenden Zusammenstellung von Bild und Text bis hin zur Retusche.[34]
Eine weitere Form solcher Destabilisierung der Bildaussage hatte Stiewe jedoch nicht in Betracht gezogen: das irreführende Wandern visueller Informationen von einem Bild zum nächsten. Als im August 1919 die 34. Ausgabe des 28. Jahrgangs ausgeliefert wurde, fühlten sich einige Leserinnen und Leser der B.I.Z. vielleicht an jenes Titelblatt erinnert, das neun Jahre zuvor die beiden Reichskanzler beim angeblichen Bad im Tiber gezeigt hatte. 1919 waren die politischen Laufbahnen von Bernhard von Bülow und Theobald von Bethmann Hollweg beendet.
Stattdessen präsentierte die B.I.Z. nun den eben erst vereidigten Reichspräsidenten Friedrich Ebert zusammen mit dem Reichswehrminister Gustav Noske beim Baden in der Ostsee (Abb. 14). Diese groteske Szene hat nicht allein Bildgeschichte geschrieben, sondern wirkte auch politisch nach. Die Peinlichkeit von «Ebert in Badehose» ließ sich nicht mehr einfangen und wurde dauerhaft zu einem Argument gegen die noch junge Republik gebraucht.[35]
Zwar war die Aufnahme des Fotografen Wilhelm Steffen für das Titelblatt des Magazins erheblich beschnitten worden, eine Fälschung war es deswegen jedoch nicht. Doch konnte man sich überhaupt so sicher sein? Wenigstens so viel war klar: Ende August musste man in der «Berliner Illustrirten Zeitung» nicht nach Aprilscherzen suchen.[36]
Abb. 14: «Ebert und Noske in der Sommerfrische». Kein Aprilscherz in der B.I.Z. vom 24. August 1919 (Titelblatt).
Weiterlesen
Mehr ReVue
passieren lassen?
Der ReVue Newsletter erscheint einmal im Monat. Immer dann, wenn ein neuer Artikel online geht. Hier en passant abonnieren.
Sie möchten unsere Arbeit
mit einer Spende unterstützen?
Hier en passant spenden!
Fotografie ist allgegenwärtig, wird aber in den journalistischen Medien noch wenig hinterfragt oder erklärt. Wer an Journalismus denkt, denkt an Texte. Das digitale Magazin ReVue verfolgt einen anderen Ansatz: Es nähert sich den Themen vom Bild her. In unseren Beiträgen untersuchen wir die Rolle und Funktion von Bildern im Verhältnis zum Text, zur Wahrheit, zum politischen oder historischen Kontext. Wie nehmen wir Bilder wahr? Welche Geschichte steckt dahinter?
Unsere Beiträge erscheinen auf Deutsch, wir übersetzen aber auch fremdsprachige Texte und erleichtern so den Wissenstransfer zu einer deutschsprachigen Leserschaft.
ReVue ist unabhängig. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich. ReVue ist ein Projekt der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.
Herausgeberin
DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V.
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin
ReVue ISSN2750–7238
ReVue wird unterstützt von